Eine Regierung aus Experten hat mit Demokratie nichts zu tun

Als politischer Theoretiker betrachtet es der seit Kurzem emeritierte Münchner Philosophie-Professor Henning Ottmann mit Sorge, dass es inzwischen etwa in Italien eine reine Experten-Regierung gibt. Denn das bewährte Grundprinzip der liberalen Demokratie ist die Wahl der Machthabenden. Henning Ottmann kritisiert: „Experten wählen zu lassen, ist aber Unsinn. Dafür bräuchte man nur eine kundige Jury. Das hätte dann aber mit Demokratie nichts mehr zu tun.“ Ein guter Politiker zeichnet sich für Henning Ottmann durch Lebenserfahrung aus, die nicht in der Politik, sondern im bürgerlichen Leben erworben wurde. Seiner Meinung nach ist zum politischen Denken, zur Reflexion jedermann fähig. Zehn Jahre hat Henning Ottmann an den neun Bänden seiner jetzt vollendeten „Geschichte des politischen Denkens“ gearbeitet. Die Bücher sind im Metzler-Verlag erschienen und kosten je Band zwanzig Euro.

Henning Ottmann fordert für Deutschland eine Art Senat mit längeren Amtszeiten

Henning Ottmann glaubt, dass in Deutschland neben dem Bundestag und dem Bundesrat, deren Mitglieder sich wegen der kurzen Legislaturperioden in einem ständigen Wahlkampf befinden, eine Institution fehlt, die über Wahltermine hinaus über politische Lösungsansätze nachdenken darf. Henning Ottmann fügt hinzu: „Eine Art Senat mit längeren Amtszeiten – natürlich nicht wie in Großbritannien aristokratisch verfasstes – Oberhaus, das langfristige Programme verfolgen kann. Das könnte sehr nützlich sein.“

Die Geschichte des politischen Denkens ist für Henning Ottmann eine intellektuelle Ressource, auf die man nicht verzichten sollte. Viele Politiker wären überglücklich, wenn sie wüssten, welche Konzeption von Demokratie dem heutigen Europa angemessen wäre. Wer aber darüber nachdenken und reden will, der kommt laut Henning Ottmann ohne Philosophie nicht aus. Das Reden ist seiner Meinung nach unverzichtbar, da Politik seit den Griechen durch Miteinander-Reden gemacht wird.

Politische Ideen können die Welt verändern

Dieses Reden lebt allerdings von einer vorhergegangenen Gemeinsamkeit. Die Menschen müssen gemeinsame Überzeugungen haben. Die lassen sich durch Reden nicht produzieren. Daraus zieht Henning Ottmann den Schluss, dass man Gemeinsamkeiten nicht antasten darf, wie zum Beispiel eine bestimmte Vorstellung von Gerechtigkeit. In den westlichen Ländern sind sich die Menschen laut Henning Ottmann eigentlich darüber einig, dass Gerechtigkeit bedeutet, sämtliche liberale Grundrechte zu haben und eine gewisse soziale Absicherung.

Henning Ottmann glaubt fest daran, dass politische Ideen diese Welt verändern können. Er zitiert Friedrich Nietzsche, der gesagt hat: „Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“ Für Henning Ottmann ist es deshalb durchaus denkbar, dass eine Theorie ganz leise auftritt und trotzdem eine große Wirkung entfaltet. Er fügt hinzu: „Theorien können aber auch – andersherum – Verzögerer von Entwicklungen sein.“ Zu den wichtigsten und wirksamsten Denkern nach dem Zweiten Weltkrieg zählt Henning Ottmann den amerikanischen Philosophen John Rawls mit seiner Gerechtigkeitstheorie.

Von Hans Klumbies