Im Gegensatz zu anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geht es Deutschland heute vergleichsweise gut. Die Arbeitslosigkeit ist nicht so hoch wie in den meisten europäischen Ländern und Deutschland kam am besten unter allen großen Staaten Europas aus der Rezession des Jahres 2009 heraus. Hans-Werner Sinn fügt hinzu: „Es hatte in den Jahren 2010 und 2011 unter den größten Ländern die höchsten Wachstumsraten. Das suggeriert vielen, dass Deutschland der große Eurogewinner war.“ Die reinen Fakten bestätigen diese Meinung allerdings nicht. Seit dem Gipfel von Madrid im Jahr 1995, auf dem der Euro endgültig beschlossen wurde, wuchs Deutschland in 16 Jahren um insgesamt 24 Prozent, während der Durchschnitt der Eurozone bei 30 Prozent lag. Hans-Werner Sinn ist seit 1984 Ordinarius in der volkswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Jahr 1999 wurde er Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München und Leiter des CESifo-Forscher-Netzwerks, weltweit eines der größten seiner Art.
Der Euro deckte die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer auf
Mit Ausnahme von Italien wuchsen laut Hans-Werner Sinn alle Krisenländer sehr viel schneller als Deutschland und zogen gewaltige Ströme von Migranten an. Erst nach der Krise brach dieser Trend in sich zusammen und kehrte sich in sein Gegenteil um. Hans-Werner Sinn weist noch darauf hin, dass Deutschland bis zum Jahr 2006, dem Jahr vor dem Beginn der Finanzkrise, mit Italien gleichauf lag und bis zum Jahr 2005 in Europa das Schlusslicht überhaupt war.
Für Hans-Werner Sinn waren vor allem die ersten Jahre des Euro für Deutschland extrem schwierig, weil ein immer größerer Teil der Ersparnisse ins Ausland floss. Zudem legte der Euro die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer schonungslos offen und erhöhte den Wettbewerbsdruck. Der Euro schuf auch Transparenz bei Preisen und Löhnen, vor allem beseitigte er aber die Wechselkursunsicherheit, die Unternehmen bislang noch daran gehindert hatte, Vorteile bei den Lohnkosten durch die Verlagerung von Standorten auszunutzen.
Der Dienstleistungssektor kompensierte die wegfallenden Arbeitsplätze der Industrie
Hans-Werner Sinn erklärt: „Deutschland war in dieser Situation zu lohnsenkenden Reformen gezwungen, um zu verhindern, dass die Industrie Schaden nehmen würde und das Land sich zu einer Basarökonomie entwickelte, die unter Verlust von Arbeitsplätzen in den Binnensektoren immer mehr arbeitsintensive Importprodukte importiert und Kapital, Talente und Wertschöpfung zunehmend auf die Endstufen der Exportsektoren verlagert.“ Zum Glück entstanden im deutschen Dienstleistungssektor genug neue Arbeitsplätze, um die in der Industrie weggefallenen Stellen zu kompensieren.
Die Beseitigung der Unsicherheit der Wechselkurse war für die Länder an der Peripherie Europas ein Segen, doch für Deutschland ein großes Problem, weil das Sparkapital in andere Länder floss und statt in Deutschland dort investiert wurde. Hans-Werner Sinn ergänzt, dass Deutschland von 2002 bis 2007 die drittniedrigste Nettoinvestitionsquote aller OECD-Länder hatte. Die Risiken, die heute im Fokus stehen, erkannten die Investoren nicht, nur die etwas höheren Renditen, die man andernorts versprach.
Von Hans Klumbies