Die Vernunft setzt sich gegen das Glück der Menschen durch

Die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche hatte das Allgemeine, das sich in den isolierten Menschen durchsetzen sollte, unter dem Titel der Vernunft zu verstehen versucht. Der Mensch erscheint als ein gegen die anderen in seinen Trieben, Gedanken und Interessen vereinzeltes Ich. Die Überwindung dieser Vereinzelung, der Aufbau einer gemeinsamen Welt geschieht laut Herbert Marcuse durch die Reduktion der konkreten Individualität auf das Subjekt des bloßen Denkens, das vernünftige Ich. Herbert Marcuse erklärt: „Die Gesetze der Vernunft bringen unter Menschen, deren jeder zunächst nur seinem besonderen Interesse folgt, schließlich eine Gemeinsamkeit zustande.“ Dabei können einige Formen der Anschauung und des Denkens als allgemeingültig sichergestellt werden. Aus der Vernünftigkeit eines Individuums lassen sich gewisse allgemeine Maximen des Handelns gewinnen.

Das wahre Glück besteht im Genuss des eigenen Daseins

Herbert Marcuse stellt fest, dass eine solche Idee der Vernunft schon die Opferung des Individuums enthält, da seine volle Entfaltung nicht in das Vernunftreich hineingenommen werden konnte. Herbert Marcuse schreibt: „Die Befriedigung seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten, sein Glück erschien als ein willkürliches, subjektives Moment, das mit der Allgemeingültigkeit des höchsten Prinzips des menschlichen Handelns nicht in Einklang gebracht werden kann.“ Auf das Glück kann es nicht ankommen, denn das Glück führt nicht über den Menschen in all seiner Zufälligkeit und Unvollkommenheit hinaus.

Herbert Marcuse zitiert Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der die Geschichte der Menschheit mit folgendem unaufhebbaren Unglück belastet gesehen hat: die Menschen müssen um des Allgemeinen willen preisgegeben werden, denn es besteht keine Harmonie zwischen dem allgemeinen und besonderen Interesse, zwischen der Vernunft und dem Glück. Der Fortschritt der Vernunft setzt sich gegen das Glück der Menschen durch. Georg Wilhelm Friedrich Hegel schreibt: „Glücklich ist derjenige, welcher sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel bekämpft den Eudämonismus im Interesse des Fortschritts

Herbert Marcuse vertritt die Überzeugung, dass das Allgemeine seinen Gang über das Individuum hinweggeht und die begriffene Geschichte als die ungeheure Schädelstätte des Geistes erscheint. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat im Interesse des geschichtlichen Fortschritts den Eudämonismus, die philosophische Lehre, die das Glück beziehungsweise das schöne Leben als Ziel allen Strebens betrachtet, bekämpft. Für ihn ist die Niedrigkeit des Eudämonismus die, dass er die Erfüllung der Sehnsucht, das Glück der Menschen in eine gemeine Welt und Wirklichkeit verlegt.

Was sich in der Kritik des Eudämonismus von Georg Wilhelm Friedrich Hegel andeutet, ist laut Herbert Marcuse die Einsicht in die geforderte Objektivität des Glücks. Er erläutert: „Wenn Glück nicht mehr ist als die unmittelbare Befriedigung des besonderen Interesses, dann enthält der Eudämonismus ein vernunftloses Prinzip, dass die Menschen in den jeweils gegebenen Lebensformen festhält.“ Das Glück sollte seiner Meinung nach etwas anderes sein als die persönliche Zufriedenheit, da es seinem eigenen Anspruch nach über die bloße Subjektivität hinausweist.

Kurzbiographie: Herbert Marcuse 

Herbert Marcuse wurde am 19. Juli 1898 in Berlin geboren. Im Jahr 1934 emigrierte der Philosoph, Politologe und Soziologe in die USA, wo er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Philosophie an der University of California lehrte. Zu seinen bekanntesten Schriften zählen: „Vernunft und Revolution“, „Triebstruktur und Gesellschaft“, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“, „Der eindimensionale Mensch“, „Kultur und Gesellschaft I und II“ sowie „Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“. Herbert Marcuse starb am 29. Juli 1979 in Starnberg.

Von Hans Klumbies