Menschliches Verhalten lässt sich nicht vorhersehen

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 06/2016 beschäftigt sich mit der Frage, wie berechenbar der Mensch ist. Denn die großen Innovationssprünge unserer Zeit wie Gentechnologie, Neurowissenschaft oder Big Data versprechen eine immer präzisere Prognostizierbarkeit des menschlichen Verhaltens. Geht es nach dem Willen von Google und Co., wird der Alltag eines Menschen schon bald exakt voraussagbar sein. Es wäre ein Leben ohne böse Überraschungen, ohne Angst vor tiefen Enttäuschungen, ohne den Terror des Unverfügbaren. Hier stellt sich natürlich die Frage, wer denn ernsthaft in einer solchen Welt leben möchte. Wie, wenn überhaupt, könnte man frei in ihr existieren. Wie unvorhersehbar das Leben aber in Wirklichkeit ist und wie wenig sich menschliches Verhalten tatsächlich voraussagen lässt und wie wenig es in der Tat bedarf, von einem vollkommen berechenbar scheinenden Handlungsmuster in ein völlig irrationales auszurasten, haben gerade die letzten Monate wieder in aller Schmerzlichkeit vor Augen geführt.

Viele Menschen trauen sich nicht aus ihrem vorhersehbaren Leben auszubrechen

„Lass dich überraschen!“ So könnte das Lebensmotto der Schriftstellerin Thea Dorn und des Kabarettisten Vince Ebert heißen, die das Philosophie Magazin zu einem Gespräch eingeladen hat. Thea Dorn vertritt dabei die These, dass im Grunde sehr viele Menschen aus ihrem vorhersehbaren Leben ausbrechen wollen, sich aber nicht trauen. Es ist in diesem Sinne also die Angst, die einen Menschen berechenbar macht. Vince Ebert ergänzt: „Und zwar die Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung. Das Gruppendenken und der Gruppendruck sind immer wahnsinnig präsent.“

Mit Dieter Thomä, der Philosophie an der Universität St. Gallen lehrt, unterhält sich das Philosophie Magazin unter anderem über folgende Fragen: „Was tun, wenn man sich fremd in der eigenen Gesellschaft fühlt? Gar eine radikal andere Welt will.“ Im Oktober erscheint sein neues Buch „Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds“. Der Störenfried zeichnet sich dadurch aus, dass er keinen festen Platz im Leben hat. Dieter Thomä erklärt: „Dadurch wird er von all den anderen, die ihren Platz im Leben bereits genau zu kennen glauben, als jemand wahrgenommen, der die bestehende Ordnung stört und infrage stellt.

In Zeiten höchster Krisen öffnen sich Fenster der politischen Hoffnung

Die Rubrik „Der Klassiker“ ist diesmal Walter Benjamin vorbehalten. In Zeiten höchster Anspannungen und Krisen öffnen sich nach seiner Überzeugung neue Fenster der politischen Hoffnung – gar der Erlösung. Für Walter Benjamin ist das derzeitige, falsche Geschichtsbewusstsein im Kern von der Idee des Fortschritts getragen. Was aus Sicht des herrschenden Dogmas als Fortschritt erscheint, erweist sich in Wirklichkeit als eine sich unablässig auftürmende Folge von Katastrophen, die der Menschheit in Form riesiger Trümmerhaufen direkt vor die Füße fällt.

Außerdem diskutieren die beiden französischen Philosophen Alain Badiou und Marcel Gauchet im neuen Philosophie Magazin über die Frage, was Europa ausgehöhlt hat. Der Brexit war nur das deutlichste Zeichen. Die Europäische Union (EU) steckt in einer bestandsgefährdenden Krise – und mit ihr der gesamte Kontinent. An seinen Grenzen herrscht Krieg, in seinem Inneren Angst. Für Marcel Gauchet ist die Demokratie in den europäischen Gesellschaften nur noch ein Wort, ein Scheinbegriff. Laut Alain Badiou wird das gegenwärtige Europa von Leuten regiert, die es als Zwangsvorrichtung handhaben: Europa fordert eine Reduktion der Defizite, Europa fordert eine Politik, die verheerende soziale Folgen hat.

Von Hans Klumbies