Der Extremsport ist zu einer Massenbewegung geworden

Sie kommen aus allen Berufsgruppen und aus allen Altersklassen: Menschen, die für eine kurze Zeit ein Held sein wollen und deshalb extrem leben. Sie stürzen sich zum Beispiel mit Fallschirmen von Hochhäusern, klettern zugefrorene Wasserfälle hinauf oder tummeln sich in ganzen Rudeln auf den höchsten Berggipfeln der Welt. Extremsport gilt mittlerweile als chic und ist schon lange nicht mehr elitär. Dennoch wollen Extremsportler sich und anderen beweisen, dass sie einzigartige Geschöpfe sind. Karl-Heinrich Bette, Sportsoziologe an der Technischen Universität Darmstadt, erklärt: „Extremsport dient in erster Linie der Inszenierung von Individualität. Es reicht heute nicht mehr aus, ein Kind zu zeugen, ein Haus zu bauen, einen Baum zu pflanzen – der moderne Mensch hält sich offensichtlich erst dann für wertvoll, wenn er allein die Welt umsegelt oder den Mount Everest bezwungen hat.“

Marvin Zuckerman teilt die Sensationsucher in vier Gruppen ein

Der moderne Mensch stürzt sich in ein Abenteuer, um aus den gesellschaftlichen Strukturen, die sein Leben ritualisieren und regeln, auszubrechen. Der Extremsportler sucht den Nervenkitzel, das flaue Gefühl in der Magengegend, das rasante Tempo seines Herzschlags. Er flüchtet vor der beruflichen und familiären Routine, den Konventionen und der Langeweile in die extreme und manchmal sogar lebensfeindliche Welt der Berge, Meere und Wüsten. Karl-Heinrich Bette erläutert: „Ein Extremsportler will handeln, nicht behandelt oder gehandelt werden. Er will Beute, keine Rente.“

„Sensation seeker“ nannte der amerikanische Psychologe Marvin Zuckerman diejenigen Menschen, die nach besonders intensiven Sinneseindrücken und Erfahrungen suchen. Marvin Zuckerman teilt diese Individuen, die sich auf der Suche nach dem ultimativen Kick befinden, in vier Gruppen ein. Zur ersten zählt der die Neugierigen, die in der Welt umherreisen und sich für fremde Kulturen interessieren. Zur zweiten gehören die Enthemmten, die den schnellen Sex suchen oder mit Drogen experimentieren.

Immer mehr Menschen jagen nach dem scheinbar wahren Leben im Extremen

Zur dritten Gruppe zählt Marvin Zuckerman die Ruhelosen, die ständig gelangweilt sind und von wiederholenden Tätigkeiten gequält werden. Zur vierten gehören die Draufgänger, die ein körperliches Risiko eingehen, etwa beim Fallschirmspringen oder Freiklettern. Extremsportler sind Typen, die Verantwortung für sich selbst übernehmen, die sich erst lebendig fühlen, wenn die Angst ihre Nervenbahnen erregt. Sie wollen Erster oder Bester sein und spielen mit dem Schicksal. Dabei sind sie sich durchaus des Risikos bewusst, ultimativ, also letal zu scheitern.

Extremsportler wolle in ihrem Leben mit Haut und Haaren Intensität erleben. Der Offenbacher Psychologe und Suchtforscher Werner Gross ergänzt: „Ein gesteigertes Erleben, das durch die Kontrolle von Angst entsteht. Aber letztlich gilt das auch für Börsenhändler und Kriegsreporter.“ Der Soziologe Karl-Heinrich Bette weist darauf hin, dass die Sehnsucht der Menschen, nach dem wahren Leben zu jagen, seit den siebziger Jahren deutlich gewachsen sei. Als Motive dafür nennt er Leistung, Selbstverwirklichung, Autonomie, Konkurrenzfähigkeit, aber auch Werte wie Fitness, Ausdauer und Schlankheit hätten an Bedeutung gewonnen. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies