Professor Dr. Hans H. Klein definiert Demokratie als Selbstregierung des Volkes. Dies scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein, da das Volk nicht regieren kann, da die Herrschaft die ständige Anwesenheit der Herrschenden voraussetzt. Dr. Hans H. Klein erklärt: „Deshalb ist Demokratie im modernen Flächenstaat mit einer meist nach Millionen zählenden Bevölkerung nicht als direkte Demokratie möglich, in welcher das Volk das einzige Regierungsorgan darstellt.“ Daraus entstand die Idee der Repräsentation: Amtsträger, die vom Volk in freien Wahlen bestimmt wurden, üben in seiner Vertretung und unter seiner Kontrolle die politische Macht aus. Dr. Hans H. Klein ist Emeritus für öffentliches Recht an der Universität Göttingen. Von 1982 bis 1983 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium, von 1983 bis 1996 Richter des Bundesverfassungsgerichts.
Die Folgen der Europäisierung für die Demokratie
Laut Dr. Hans H. Klein gelingt repräsentative Herrschaft allerdings nur unter der Voraussetzung vielfältiger und ständiger Wechselwirkung zwischen der Willensbildung der Bürger und der Willensbildung in den Staatsorganen. Die Transparenz der staatlichen Entscheidungen muss durch die politischen Parteien und die Medien gewährleistet werden. Früher war der Territorialstaat grundsätzlich von einer national orientierten Gesellschaft, der Nation, geprägt. Zu diesem geschlossen Staatssystem ist im 20. Jahrhundert eine offene Staatlichkeit hinzugekommen, ohne dass dabei der Territorialstaat seine Existenzberechtigung eingebüßt hätte.
Dr. Hans H. Klein erklärt: „Die Staaten, jedenfalls die europäischen, sind nicht mehr autark. Sie sind in wachsendem Maß auf den Weg institutioneller Zusammenarbeit mit anderen Staaten angewiesen.“ Die Europäisierung und die intensivierten Formen der staatenübergreifenden Kooperation hat in Europa eine unüberschaubare Vielfalt erreicht. Ebenso schreitet die internationale Vernetzung der Wirtschaft, der Bevölkerung und der Wissenschaft im Euroraum voran. Das hat für die Demokratie gemäß Hans H. Klein gravierende Folgen: „Mit den schwindenden Möglichkeiten nationaler Politik ändern sich die Funktionsbedingungen und Funktionsweisen der Demokratie.“
Das Demokratieprinzip der Europäischen Union hat seine eigene Qualität
Als Beispiel wählt Dr. Hans H. Klein die Europäische Union. Seiner Meinung verträgt sich eine nahtlose Übertragung des für die Mitgliedsstaaten verbindlichen Modells der repräsentativen Demokratie auf die EU nicht mit deren föderativen Struktur. Er erklärt: „Die Union ist kein Staat, sondern ein Verbund (!) demokratischer Staaten. Da die EU hoheitliche Gewalt ausübt, kann sie demokratischer Legitimation nicht entbehren.“ Das Europäische Parlament ist für Dr. Hans H. Klein keine Vertretung der Gleichen und muss es auch nicht sein. Das Demokratieprinzip der Europäischen Union ist seiner Meinung nach im Vergleich mit dem nationalen nicht defizitär, sondern von anderer Qualität.
Deshalb sind für Dr. Hans H. Klein bei der Übertragung von Zuständigkeiten von den Mitgliedsstaaten auf die EU Grenzen gesetzt. Damit die politische Selbstbestimmung zu keiner leeren Formel verkommt, muss der Staat der politische Primärraum bleiben. Dr. Hans H. Klein erklärt: „Als solcher muss er über ausreichende Möglichkeiten zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensbereiche verfügen. Das ist sinnvoll auch deshalb, weil ihr Staat der Raum ist, in den die Menschen ihr Vertrauen setzen und an den sie in erster Linie ihre Erwartungen richten.“ Die politische Entscheidungsmacht der EU darf daher laut Dr. Hans H. Klein nicht das Niveau der Einzelstaaten erreichen.
Von Hans Klumbies