Gesellschaftliche Ungleichheit gefährdet die Demokratie

Für Tony Judt muss unter all den konkurrierenden und nur partiell miteinander zu vereinbarenden Zielen, die von der Politik angestrebt werden, an oberster Stelle der Abbau von Ungleichheit in einer Gesellschaft stehen. Er glaubt, dass bei dauerhafter Ungleichheit alle anderen erstrebenswerten Ziele viel schwerer zu erreichen sind. Die Armen und Benachteiligten der Welt können momentan kaum Gerechtigkeit erwarten. Tony Judt präzisiert: „Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, sie haben eine geringere Lebenserwartung und weniger Entfaltungsmöglichkeiten. Sie haben keine gute Schulbildung, aber ohne Schulbildung können sie nicht auf einen halbwegs sicheren Arbeitsplatz hoffen und schon gar nicht am kulturellen Leben ihrer Gesellschaft teilnehmen.“

Eine harmonische Gesellschaft entsteht nur durch die Zügelung der Selbstsucht

Ungleichheit ist laut Tony Judt aber nicht nur ein technisches Problem. Sie ist außerdem der Ausdruck von mangelndem sozialem Zusammenhalt in einer Gesellschaft, in der sich die Eliten abschotten und das Prekariat ausgegrenzt wird. Tony Judt klagt an: „Das ist das Übel unserer Zeit und die größte Gefahr für die innere Stabilität jeder Demokratie. In grotesk ungerechten Gesellschaften geht auf Dauer jede Brüderlichkeit verloren.“ Eigentlich müssten die Politiker wissen, dass Ungleichheit nicht nur moralisch fragwürdig ist, sondern auch Ineffizienz befördert.

Tony Judt glaubt, dass Egoismus anstrengend ist. Eine Erklärung dafür sieht er in der Beliebtheit der Gated Communities. Die ihn ihnen hinter hohen Mauern lebenden Privilegierten wollen hier nicht an ihr Elitedasein erinnert werden, da dieses einen zweifelhaften Beigeschmack hat. Tony Judt empfiehlt diesen unguten Trend umzukehren und zitiert Adam Smith: „In einer Gesellschaft kann nur dann jene Harmonie der Empfindungen und Effekte in den Menschen entstehen, wenn wir unseren wohlwollenden Neigungen freien Lauf lassen und unsere Selbstsucht zügeln.“

Gleichheit verringert Neid und Groll

Jede Gemeinschaft sollte sich gemäß Tony Judt auf ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des gegenseitigen Vertrauens stützen. Er erklärt: „Gemeinsam ein Ziel zu verfolgen ist außerordentlich befriedigend – ob im Mannschaftssport oder in einer Berufsarmee. Die zersetzenden Folgen von Neid und Groll, die in erkennbar ungleichen Gesellschaften zu beobachten sind, würden bei größerer Gleichheit deutlich verringert.“ Tony Judt führt als Beispiele an, dass in egalitären Gesellschaften die Gefängnispopulation geringer und das Bildungsniveau höher ist.

Einiges weist gemäß Tony Judt sogar darauf hin, dass sogar die Wohlhabenden in ungleichen Gesellschaften zufriedener wären, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich deutlich geringer wäre. Tony Judt erklärt: „Sie würden sich sicherer fühlen. Aber mehr noch: unter Nachbarn zu leben, deren Existenzbedingungen ein ständiger Vorwurf sind, ist für Begüterte nicht angenehm.“ Dazu gilt die Faustregel: Wenn eine Gesellschaft den Benachteiligten bessere Chancen gibt, verringert dies nicht die Aussichten der ohnehin Bessergestellten.

Von Hans Klumbies