Die Wahrheit wird von einem sozialen Dialog bestimmt

Wer anderen mit Vorurteilen begegnet, ist selbst bereits einer Beeinflussung seiner freien Willensbildung erlegen. Der freie Wille, so würde man es sich auf den ersten Blick wohl wünschen, sollte aber nicht auf Beeinflussungen, sondern auf der Erkenntnis der Wahrheit beruhen. Allerdings gilt: Alle Meinungs- und Willensbildungen, an deren Ende man etwas als wahr und gültig erkennt, resultieren aus sozialen Prozessen der Verständigung, die unausweichlich immer auch mit Beeinflussungen verbunden sind. Joachim Bauer fügt hinzu: „Diese Beeinflussungsprozesse sind Teil des natürlichen Bedingungsgefüges, in dem sich der freie Wille formiert. Sie sind teils offener, teils verborgener Natur.“ Das Ziel kann nicht sein, sie zu verhindern, denn dies wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer lehrt an der Universität Freiburg.

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Selbstveränderungen gelingen nur mithilfe anderer Menschen

Die Macht des Unbewussten in Frage zu stellen und zu leugnen, dass die Willensbildung eines Menschen auch über unbewusste Mechanismen auf vielfältige Weise beeinflussbar ist, wäre naiv. Joachim Bauer ergänzt: „Ebenso naiv wäre es, mit der Willensfreiheit die Vorstellung zu verbinden, der Mensch könne sich – qua freien Willen oder auf der Basis von neuen Vorsätzen – selbst neu erfinden.“ Zu den Kontexten, in denen sich die menschliche Willensbildung vollzieht, gehört die eigene, überaus facettenreiche innere Realität mitsamt ihren unbewussten Anteilen.“ Zum großen Projekt der Aufklärung gehörte auch die Erforschung der inneren Realität. Nur so können die Sphären der Vernunft und die von ihr ermöglichten Möglichkeiten der Steuerung auch nach innen hin erweitert werden. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer lehrt an der Universität Freiburg.

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Die Idee der großen Koalition lähmte die Weimarer Republik

Die Deutschen, so ein weit verbreitetes Urteil, mögen keine politischen Konflikte. Und geradezu allergisch reagieren sie laut Andrea Wirsching, wenn sich der Streit als „Parteiengezänk“ darstellt. Der sozialdemokratische Staatsrechtler Gustav Radbruch hat dieses Phänomen schon in der Weimarer Republik aufgespürt und als „Parteienprüderie“ bezeichnet. Er beschreibt mit diesem Begriff den Unwillen, Parteien als legitime Organe politischer Willensbildung zu akzeptieren. In der Weimarer Zeit suchte deshalb die parlamentarische Elite gegen diesen Unwillen ein Patentrezept und erfand die große Koalition. Viele Politiker der damaligen Zeit erhoben die Idee der großen Koalition zum Maß aller Dinge, wenn es um die Existenzbedrohung des stets prekären Weimarer Parlamentarismus ging. Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Theodor W. Adorno fordert die Erziehung zur Mündigkeit

Die Forderung zur Mündigkeit erscheint für Theodor W. Adorno in einer Demokratie als eine Selbstverständlichkeit. Um diese Tatsache zu verdeutlichen, zitiert er Immanuel Kant, der sagt, selbstverschuldet sei die Unmündigkeit, wenn die Ursachen derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegen. Immanuel Kant schreibt: „Aufklärung ist Ausgang des Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Dieser Satz ist auch heute noch aktuell, denn Demokratie beruht laut Theodor W. Adorno auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfasst. Theodor W. Adorno, geboren am 11. September 1903 in Frankfurt am Main, gestorben am 6. August 1969, lehrte in Frankfurt als ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie und war Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität.

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Rettung und Gefahr gehen in Europa fließend ineinander über

Konrad Paul Liessmann stellt sich die Frage, ob sich das europäische Projekt durch folgende Formulierung beschreiben ließe: „Eine fließende Grenze zwischen Rettung und Gefahr.“ Seiner Meinung nach lässt sich zurzeit nirgendwo das Wechselspiel zwischen Grenzaufhebung, Grenzüberschreitung und Grenzziehung so gut studieren wie in Europa. Das Projekt der Europäischen Union lebt laut Konrad Paul Ließmann in hohem Maße vom Pathos der gefallenen und fallenden Grenzen, andererseits wird allmählich aber deutlich, dass dieses Projekt nur eine politische Zukunft hat, wenn Grenzen gezogen werden. Er erklärt: „Die Bedeutungslosigkeit alter europäischer Binnengrenzen korrespondiert so nachdrücklich mit der für viele so unüberwindlichen Schranke, die durch die Schengen-Grenze aufgerichtet ist.“ Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie der Universität Wien. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Die Theorie der Unbildung“ und „Das Universum der Dinge.“

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Die Wandlung des Internets von einer schönen Idee zur Ideologie

Eine Weile lang schien das Internet die Gesellschaft in fast allen Bereichen zu revolutionieren. Das Alte, das Konservative, das Traditionelle schien endgültig der Vergangenheit anzugehören. Die neue Partei der Piraten versprach nicht mehr und nicht weniger als eine „flüssige Demokratie“, die mit ihrer Bürgernähe den ausgedienten Parlamentarismus ersetzen würde. Spontane Kampagnen im Netz sollten nach dem Willen der Piraten die mühsame Kompromisssuche ersetzen, wie sie in Demokratien, die auf der Basis des Aushandelns agieren, üblich ist. Eine wahre Revolution der Transparenz schien auszubrechen, die direkte Demokratie, in der jeder bei wichtigen Entscheidungen mitreden darf, stand in den Startlöchern. Die Stars der Piratenpartei erklommen die Titelseiten, trieben die etablierte Politik und einen Teil der Medien mit ihrer Offenheit vor sich her.

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Andreas Wirsching erklärt das westeuropäische Parteiensystem

In der Geschichte der europäischen Demokratie gehört es laut Andreas Wirsching zu den wichtigsten Funktionen von Parteien, das Massenpublikum in den demokratischen Prozess der Willensbildung zu integrieren. Andreas Wirsching schreibt: „Parteien bilden die entscheidenden Schnittstellen zwischen Politik und Gesellschaft und erfüllen eine zentrale Aufgabe, indem sie gesellschaftliche Anliegen aufnehmen, transportieren und auf die politische Tagesordnung setzen.“ In Westeuropa pendelten sich seiner Meinung nach überraschend schnell nach 1945 entsprechende politische Parteienverhältnisse ein, zum Teil sicherlich auch in Anknüpfung an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Tatsächlich restaurierte sich ein Parteiensystem der Eliten des alten Europas, die noch im 19. Jahrhundert sozialisiert worden waren. Andreas Wirsching ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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Die Entscheidungsmacht der EU darf nicht ausufern

Professor Dr. Hans H. Klein definiert Demokratie als Selbstregierung des Volkes. Dies scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein, da das Volk nicht regieren kann, da die Herrschaft die ständige Anwesenheit der Herrschenden voraussetzt. Dr. Hans H. Klein erklärt: „Deshalb ist Demokratie im modernen Flächenstaat mit einer meist nach Millionen zählenden Bevölkerung nicht als direkte Demokratie möglich, in welcher das Volk das einzige Regierungsorgan darstellt.“ Daraus entstand die Idee der Repräsentation: Amtsträger, die vom Volk in freien Wahlen bestimmt wurden, üben in seiner Vertretung und unter seiner Kontrolle die politische Macht aus. Dr. Hans H. Klein ist Emeritus für öffentliches Recht an der Universität Göttingen. Von 1982 bis 1983 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium, von 1983 bis 1996 Richter des Bundesverfassungsgerichts.

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