Kaum ein Mensch kann seine Herkunft erfolgreich verleugnen

Im Titelthema des neuen Philosophie Magazins 01/2015, Dezember/Januar, geht es um die Frage, ob sich ein Mensch jemals seiner Herkunft entledigen kann. Auf der einen Seite stiftet Herkunft Identität und seine biographischen Wurzeln geben dem Individuum Halt und Sinn. Auf der anderen Seite beschränkt die Herkunft die persönliche Freiheit, kann in manchen Fällen sogar ein Grund für Diskriminierung, Enge und Depression sein. Viele große Denker der Moderne waren sich deshalb einig: „Löse Dich von den Fesseln der Herkunft! Werde du selbst, indem du mit deinem Erbe brichst!“ Peter Sloterdijk legt in einem Gespräch mit Chefredakteur Wolfram Eilenberger dar, worum diese Form der Verleugnung der Herkunft die eigentliche Ursünde der Moderne darstellt. Svenja Flaßpöhler argumentiert: „Nur wer sich seiner Herkunft stellt, muss sie nicht wiederholen.“

Die Zukunft braucht eine Herkunft

Vom Geschlecht bis zur Religion, die Menschen kommen geprägt zur Welt. Wie man mit dieser Tatsache am besten umgeht, dazu geben Philosophen die verschiedensten Antworten. Friedrich Nietzsche fordert zum Beispiel: „Wage es, aufzubegehren und unzeitgemäß zu leben – so, dass du wünschen kannst, genauso noch einmal zu leben, bis in alle Ewigkeit!“ Für Odo Marquard braucht Zukunft eine Herkunft. Die Menschen müssen fähig sein, beides zu leben: „Die Schnelligkeit (Zukunft), die Langsamkeit (Herkunft).

Die französische Philosophin Catherine Malabou, Professorin für Philosophie an der Londoner Kingston University und eine der innovativsten Denkerinnen der Gegenwart, verbindet die Dekonstruktion, deren Feld das Funktionieren der Sprache ist, mit den jüngsten Erkenntnissen der Neurowissenschaft und fordert, das Verhältnis von Freiheit und Bestimmtheit neu zu definieren. Dabei richtet Catherine Malabou ihren Fokus auf die Plastizität des Gehirns. Sie erklärt: „Die neuronalen Verbindungen im Gehirn sind nicht von vornherein festgelegt; gleichzeitig sind sie aber auch nicht beliebig veränderbar.“

Zwischen Weihnachten und Silvester steht die Welt acht Tage still

In der Rubrik „Der Klassiker“ stellt das Philosophie Magazin diesmal die „Bhagavad Gita“ vor, den einzigartigen Schatz der indischen Philosophie. Ihr ist auch die Sammelbeilage, mit Auszügen daraus, gewidmet. Die um das 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geschriebene „Lied der Gottheit“ vereint Religion, Metaphysik und Ethik. Der Held der Schrift der Krieger Ardschuna erhält darin eine Unterweisung des Gottes Krishna. Er soll lernen, seine Begierden zu zügeln und auf die Früchte seines Handelns zu verzichten, um Seelenheil zu erlangen.

In der Rubrik Zeitgeist beschäftigt sich Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena, mit der Zeit zwischen den Jahren. Er behauptet: „Weihnachten ist vielleicht das Verlässlichste, was wir haben im Leben.“ Weihnachten am 24. Dezember und Silvester am 31. Dezember stehen für ihn wie Bollwerke, wie Rammböcke im Strom der Zeit, im Wirbel der Deadlines, Fristen und Termine. Was immer die Menschen in dieser Zeit tun, es gehört nicht zum alten und nicht zum neuen Jahr. Diese Zeit erzeugt ihren eigenen Horizont – die Welt steht für acht Tage still.

Von Hans Klumbies