Der Anarchismus will eine herrschaftsfreie Gesellschaft

Der Politologe Peter Lösche grenzt den Anarchismus von anderen sozialen und politischen Bewegungen ab, indem er ihn anhand von vier immanenten Kriterien beschreibt. Erstens sind die Anarchisten dadurch charakterisiert, dass sie jede Form von menschlicher Organisation ablehnen, mit deren Hilfe politischer, ideologischer, gesellschaftlicher oder ökonomischer Zwang ausgeübt werden könnte. Vielmehr streben sie die freiwillige Assoziation der emanzipierten, mündigen Bürger an. Laut Peter Lösche ist der Anarchist konsequent gegen Institutionen eingestellt, lehnt die Bürokratie und die Parlamente ab, mit Parteien, Verbänden und der Kirche will er auch nichts zu tun haben. Doch selbst das genügt den Anarchisten noch nicht. Peter Lösche erklärt: „Anarchisten wenden den Antiinstitutionalismus auch auf ihre eigene Bewegung an; sie lehnen festgefügte Organisationen, in denen sich die Gefahr der Hierarchisierung realisieren könnte, ab.“  

Die kleinste Einheit des Wohnens ist die Kommune

Zum zweiten immanenten Kriterium des Anarchismus erklärt Peter Lösche die Tatsache, dass Ideologien im anarchistischen Verständnis der Ausdruck bestehender und in Institutionen wirkenden Herrschaftsverhältnisse sind, die zur Stabilisierung der Herrschaft dienen. Peter Lösche schreibt: „Anarchisten lehnen jede Systematisierung ihrer Gesellschaftskritik ab: Theorielosigkeit wird deswegen von ihnen zum Prinzip erhoben, weil eine Theorie zur Autorität gerinnen und die Freiheit des Einzelnen und damit der Gesellschaft einschränken könnte.“

Das dritte tragende Element des Anarchismus ist sein Ziel der herrschaftsfreien Gesellschaft, eben der Anarchie, in der an die Stelle der Herrschaft von Menschen über Menschen die Verwaltung von Sachen tritt. Peter Lösche erklärt: „Diese künftige Gesellschaft ist nicht „chaotisch“, sondern nach dem Prinzip des Föderalismus organisiert.“ Das menschliche Zusammenleben soll durch freiwillige Übereinkommen der Menschen untereinander von unten nach oben strukturiert werden. Die Kommune ist die kleinste Einheit des Wohnens, das Syndikat die Grundlage der Produktion, der Güterverteilung und der Dienstleistungen.

Der Anarchismus glaubt an die sofortige Wirkung der Aufklärung

Viertens ist der  Anarchismus laut Peter Lösche durch einen Revolutionsbegriff charakterisiert, der ungebrochen aus der frühsozialistischen Tradition stammt und an die Praxis der Geheimbünde des Vormärz anschließt. Peter Lösche schreibt: „Im Unterschied zu anderen – etwa marxistischen – Revolutionstheorien ist der anarchistische Revolutionsbegriff dadurch bestimmt, dass es keiner Stufe zwischen dem heutigen Status quo und der Anarchie bedarf.“

 Das Bürgertum muss also nicht erst politisch und ökonomisch voll emanzipiert sein, bevor die allgemeine menschliche Befreiung in die Tat umgesetzt werden kann. Die Antizipation der Anarchie ist in der Gegenwart möglich, Revolution und konstruktive Neuordnung können im Gleichschritt erfolgen. Dies ist gemäß Peter Lösche ein voluntaristischer Revolutionsbegriff, der mit einem unerschütterlichen Glauben an die sofortige Wirkung von Aufklärung verbunden ist.

Von Hans Klumbies