Obwohl der frühe Liberalismus zunächst nur einen methodischen, keinen sozialkritischen oder sozialethischen Individualismus vertritt, wirft man ihm gern pauschal, nämlich auf seine unterschiedlichen Gestalten einzugehen, einen Mangel an sozialer Sensibilität vor. Schon ein knapper Blick auf prominente Denker des klassischen Liberalismus kann diesen Vorwurf entkräften. Als ersten Beleg für die angeblich fehlende soziale Sensibilität pflegt man Adam Smith anzuführen. Otfried Höffe hält dagegen: „In Wahrheit hatte Smith nicht bloß viele Jahre einen Lehrstuhl für Moralphilosophie inne und verfasste eine wirkungsmächtige Theorie moralischer Gefühle, in der die Sympathie, also ein ausdrücklich soziales Gefühl, im Vordergrund steht.“ Selbst später, in der berühmten Wirtschaftstheorie „Eine Untersuchung über den Wohlstand der Nationen“ kommt es ihm auf Wohlstand an, was allerdings mehr als nur den materiellen Reichtum meint, und vor allem ist seine Bezugsgruppe des Wohlstands nicht eine kleine Gruppe oder Schicht. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.
Durch den freien Markt ergibt sich der kollektive Wohlstand von allein
Es sind nicht die Bessergestellten, sondern alle zusammen, das jeweilige Gemeinwesen beziehungsweise die Nation. Otfried Höffe erklärt: „Adam Smith geht es um den kollektiven Wohlstand, also um ein Gemeinwohl, von dem er glaubt, dass es sich durch den freien Markt, nämlich durch Arbeitsteilung, Konkurrenz und Eigeninteresse, von allein ergebe.“ Adam Smith` soziales und sozialethisches Interesse zeigt ein Vergleich mit einem anderen damals wirkungsmächtigen Werk.
Zwei Generationen vor Adam Smith vertritt der in London praktizierende Nervenarzt Bernard de Mandeville, der Autor der berühmten Satire „Bienenfabel“ , in einem „Essay on Charity and Charity Schools“ (1723), die gegen Shaftesbury gerichtete, bewusst provokative These, der Wohlstand einer Nation entstehe dort, wo eine Masse armer, unwissender und bedürfnisloser Menschen für die Reichen arbeite. Adam Smith vertritt die genaue Gegenposition: „Ganz sicher kann keine Nation blühen und gedeihen, deren Bevölkerung weiterhin in Armut und Elend lebt.“
Jeremy Bentham begründet den Utilitarismus
Als nächsten prominenten Vertreter des Liberalismus nennt Otfried Höffe den Juristen Jeremy Bentham, der sich vornehmlich für soziale und politische Reformen engagiert. In seiner Schrift „Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung“ (1789) setzt er sich für eine methodisch rationale Politik auf der Grundlage von Erfahrungsdaten ein. Seine Selbsteinschätzung, dass er mit dem normativen Grundsatz, dem utilitaristischen Prinzip des größten Glücks der größten Zahl, zum „Newton der moral sciences“ geworden sei, greift allerdings entschieden zu hoch.
Bestreiten lässt sich aber nicht, dass sein Utilitarismus sich gegen die Konzentration von Macht und Reichtum in einer dünnen Schicht Privilegierter – des Adels, der höheren Geistlichkeit und der Juristen – richtet. Bei der Berechnung des größten Glücks zählt nämlich jeder einzelne und jeder gleich viel. Den Gedanken von Grund- und Menschenrechten lehnt Jeremy Bentham zwar als angeblichen „anarchistischen Fehlschluss“ ab. Denn unter Berufung auf eine überpositive Instanz können man sich gegen das positiv geltende Recht wenden, was der Willkür Tür und Tor öffne. Quelle: „Kritik der Freiheit“ von Otfried Höffe
Von Hans Klumbies