Der Kapitalismus kennt kein Endstadium

Wenn die Gesellschaften der Moderne mit der vierten industriellen Revolution ihr Wirtschaften effizienter machen, folgen sie dabei einer Logik, die mit dem Ausstellen von Wechseln und der Explosion des Kreditwesens im 15. Jahrhundert begann. Richard David Precht ergänzt: „Doch erst die Erfindung der industriellen Produktion und später der Massenproduktion hat sie zur Leitkultur gemacht.“ Seitdem sind Effizienz, Effektivität und Optimierung die Antreiber der Ökonomie. Sie nutzt fossile Stoffe wie Erdöl und Kohle und verfeuert sie für den Augenblick. Und dieser ist nie mehr als das neue Gestern. Der Kapitalismus kennt kein Endstadium, sondern nur immer neue Grenzen, die er überwinden muss. Doch nicht nur physische Stoffe, auch metaphysische Stoffe werden ihm zur Ressource. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Die vierte industrielle Revolution hält den Menschen selbst für optimierungsbedürftig

Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution gilt die Zeit als Geld. Was die Fließbänder bei Ford anschaulich vorführten – die unerbittliche Taktung der Zeit in der Produktion –, gilt heute für das Leben der meisten Menschen. Die Zeit wird vermessen, sie ist ein kostbares Gut, das man nutzen soll und nicht vergeuden. Das Effizienzdenken – oder wie die Philosophie seit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sagt: die „instrumentelle Vernunft“ – folgt einer unerbittlichen Verwertungslogik. Und sie wird gnadenloser und immer schneller.

Richard David Precht erläutert: „Doch etwas ist ganz neu im Effizienzdenken der vierten industriellen Revolution. Sie wendet die Aufforderung zur Optimierung nicht nur auf Optimierungsprozesse an. Nein, sie hält den Menschen selbst für optimierungsbedürftig!“ Die Propheten von Silicon Valley künden davon, Mensch und Maschine zu verschmelzen. Nur mit einem Chip im Gehirn erscheint ihnen Homo sapiens optimal. Der gegenwärtige jedenfalls gilt als defizitär. Nun gut, die Ansicht, dass dem Menschen etwas fehlt, das er finden oder wiederfinden muss, hat seit Platon in der Philosophie Tradition.

Die Fortschrittswelten des Silicon Valley sind zutiefst inhuman

Die Philosophen der Antike meinten jedoch damit, dass der Mensch gerechter und einsichtiger werden sollte. Etwas rücksichtsvoller, bescheidener, friedlicher und liebevoller zu sein könnte der Spezies Mensch auch nicht schaden. Und die Bedürfnisse nach Geld, Ruhm und Macht könnten besser gezügelt sein. Aber die vierte industrielle Revolution möchte nur die Gewinne optimieren. Und „Optimierung“ beim Menschen bedeutet, ihn maschinenähnlicher zu machen – also nicht etwa humaner, sondern weniger human.

Infrage gestellt wird also das menschliche Selbstverständnis, die „ineffektive Weise“, wie die meisten Menschen leben und zusammenleben und wie sie ihre Politik betreiben. Bislang, so scheint es, gibt es kein humanes Gegenmodell zu den sterilen und zutiefst inhumanen Fortschrittswelten des Silicon Valley. Und dessen Freiheitsversprechen durch Technologie ist eher ein Weniger an Freiheit gefolgt: die Ausplünderung der persönlichen Daten, die unbemerkte Überwachung und Kontrolle durch Firmen und Geheimdienste, der Druck auf jeden Einzelnen, sich zu optimieren. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies