Schon in der Philosophie der Antike gilt das Gehen als Methode des Philosophierens. Platon hat beispielsweise im Dialog „Phaidros“ das Gehen mit der lebendigen Rede verglichen. Die Schüler des Aristoteles werden Spaziergänger genannt, weil sie mit ihrem Meister philosophierend umherwandelten. Und noch Karl Marx ging in seinem Arbeitszimmer so exakt auf und ab, dass der Teppich in einer Linie abgenützt war. Wilhelm Berger schreibt: „Gehen und Denken zusammenzudenken, ist ein kulturhistorisches Grundmotiv, das Paul Nizon in seinem Text „Am Schreiben gehen (1985) ausführlich skizziert hat.“ Das Gehen ist in den genannten Beispielen ein Mittel zum Zweck, und der Zweck ist so auf den Gehenden selbst bezogen, dass kaum ein Blick auf die Umgebung möglich wird. Professor Wilhelm Berger lehrt am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Gehen und Denken teilen sich einen gemeinsamen Raum
Parmenides wollte zum Tor, an dem Tag und Nacht, Wissen und Nichtwissen sich scheiden, seine Reise führt von den Menschen weg und hin zur Göttin Wahrheit. Bei Platon leitet das Kommen und Gehen der Gesprächspartner die Dialoge ein, häufig wird im Gehen gedacht. Wilhelm Berger fasst zusammen: „Für Parmenides, Platon, Aristoteles und Marx ist das Gehen nur ein Transportmittel zur Reise in das Land des Geistes. Das Verhältnis von Gehen und Denken ist gewissermaßen in Gestalt der klassischen Bildungsreise organisiert.“
Die Bildung eines Bildungsreisenden ist zum Beispiel nur an den außerordentlichen Orten möglich, wenn das Gehen bereits an ein Ziel gelangt ist. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard schreibt in seiner Erzählung „Gehen“ folgendes: „Gehen und Denken stehen in einem ununterbrochenen Vertrauensverhältnis zueinander. Die Wissenschaft des Gehens und die Wissenschaft des Denkens sind im Grunde genommen eine einzige Wissenschaft.“ Dabei setzt er die Annahme voraus, dass sich Gehen und Denken einen gemeinsamen Raum teilen.
Weltgeschichte und Weltgeist haben geographische Grundlagen
Wilhelm Berger erläutert: „Das Verhältnis des Denkens und seines Raums kann allerdings in zweierlei Weise konzipiert werden: einerseits als klassisches Territorium; andererseits als offener Raum der Relationen, der erst in der Bewegung des Gehens und Denkens entsteht.“ In der Geschichte der Philosophie wurde das Verhältnis von realen Räumen und gedachten Räumen an zentralen Punkten reflektiert. Wilhelm Berger denkt dabei an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, für den sowohl die Weltgeschichte als auch der Weltgeist geographische Grundlagen haben.
Die zweite Möglichkeit, das Verhältnis von Denken und Raum zu konzipieren, kann Friedrich Nietzsche zum Beispiel nehmen. Wilhelm Berger erklärt: „Am plastischsten wird das in „Also sprach Zarathustra. Zarathustra wandert durch Städte, durch Ebenen, ins Gebirge, Zarathustra bewohnt eine Höhle. Aber es ist erst die Wanderung, also die Bewegung, die dieses Territorium, den Wanderer selber und die Bewohner erzeugt.“ Zarathustra begegnet anderen, die selbst wieder Bewegung sind, die also erst durch die Bewegung ihre konkrete Kontur gewinnen. Quelle: „Was ist Philosophieren“ von Wilhelm Berger
Von Hans Klumbies