Der Wille zur Wahrhaftigkeit prägt die intellektuelle Redlichkeit

In dem Maße, in dem die menschliche Würde durch den Willen zur Wahrhaftigkeit bestimmt wird, hat sie mit einer Einstellung zu tun, die Peter Bieri intellektuelle Redlichkeit nennt. Als Maxime formuliert lautet sie: „Man soll nicht vorgeben, Dinge zu wissen, die man nicht weiß und nicht wissen kann.“ Allerdings kann jeder viele Annahmen und Überlegungen aussprechen und zur Diskussion stellen. Selbst Vermutungen und Denkübungen, die auf wackligen Füßen stehen. Das ist für Peter Bieri nichts, was die intellektuelle Redlichkeit verbietet. Was sie nicht erlaubt, ist, dass man sie als Wissen ausgibt – als etwas, worauf man bauen kann. Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, studierte Philosophie und Klassische Philologie und lehrte als Professor für Philosophie in Bielefeld, Marburg und an der Freien Universität Berlin.

Politiker kaschieren ihr fehlendes Wissen durch Gesten der Selbstüberredung

Das geschieht allerdings laut Peter Bieri besonders oft und durchsichtig in Äußerungen von Politikern. Sie haben oft Zusammenhänge zum Gegenstand, die vor Komplexität und Unübersichtlichkeit geradezu nur so strotzen, dass niemand wirklich weiß, wie die Dinge liegen und was zu tun ist. Peter Bieri stellt fest: „Doch die Regierungschefs, die Minister und die Sprecher der Parteien stellen sich hin und behaupten, als einzige die Übersicht zu haben. Die anderen liegen falsch. Was man über die Situation sagt und was man vorhat, ist alternativlos.“

In Parteien und Ministerien werden laut Peter Bieri Formeln geschmiedet und Metaphern beschworen, die in ihrer Einfalt zum Lachen sind. Umso energischer sind die Bewegungen von Händen und Armen am Rednerpult, zum Beispiel bei der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Peter Bieri fügt hinzu: „Wenn man den Ton abschaltet und nur die Körpersprache betrachtet, sieht man Menschen, die ihr fehlendes Wissen durch eine Gestik der Selbstüberredung kaschieren. Niemand, der solides Wissen vorträgt, hat solche Gestik nötig.“

Peter Bieri hält den Wallfahrtsort Lourdes für einen Alptraum

Neben der Anerkennung von Ungewissheit gehört für Peter Bieri zur intellektuellen Redlichkeit die Anerkennung von Tatsachen, vor allem von jenen, die moralisch bedeutsam sind. Deshalb gehen Menschen gegen fehlende Wahrhaftigkeit sogar rechtlich vor. Leugner von Völkermord werden zum Beispiel unter Strafe gestellt. Peter Bieri ergänzt: „Selbst, wenn niemand direkt darunter zu leiden hätte: Das geht nicht, es ist unerträglich. So wollen wir nicht leben. Wir empfinden Ekel davor, und es ist der Ekel fehlender Würde.“

Auch der Aberglaube kann Menschen als etwas stören, was mit der Würde in Konflikt gerät. Es geht nicht, Beliebiges zu glauben: beispielsweise, dass die Zahl 13 Unglück bringt. Menschen können auch die Würde von jemandem beschädigen, indem sie ihn zum Aberglauben verleiten. Peter Bieri nennt zum Beispiel den Wallfahrtsort Lourdes, das er für einen Alptraum hält. Nicht nur wegen des Kitsches und Kommerzes, die wie erstickende Schwaden über dem Ort hängen. Das Schlimmste sind für ihn die unzähligen Gelähmten und Behinderten, denen man wundersame Heilung versprochen hat und die nach dieser letzten Chance greifen.

Von Hans Klumbies