Analphabetismus ist ein Skandal der modernen Gesellschaft

Der Analphabetismus ist für Konrad Paul Liessmann längst keine Metapher mehr für eine Unbildung, die nur wenige Menschen am Rande der Gesellschaft betrifft, sondern der Skandal einer modernen Gesellschaft schlechthin: dass junge Menschen nach Abschluss der Schulpflicht die grundlegenden Kulturtechniken wie das Lesen und das Schreiben nur unzureichend, manchmal gar nicht beherrschen. Neben der umstrittenen Methode, Schreiben nach dem Gehör zu lernen, zählt der Versuch, die Lesefähigkeit zu steigern, indem man die Texte drastisch vereinfacht, zu den problematischen Strategien einer umfassenden Praxis der Unbildung. Sprache, so suggerieren diese Konzepte, dient nur der Übermittlung simpler Informationen. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Viele Jugendliche können nicht mehr mit der Hand schreiben

Konrad Paul Liessmann kritisiert: „Dass in und mit Sprache gedacht und argumentiert, abgewogen und nuanciert, differenziert und artikuliert wird, dass es in einer Sprache so etwas wie Rhythmus, Stil, Schönheit und Komplexität als Sinn- und Bedeutungsträger gibt, wird schlicht unterschlagen oder als verzichtbares Privileg von Bildungseliten denunziert.“ Schon jetzt können beispielsweise Jugendliche, die in Computer-Klassen unterrichtet werden, nicht mehr mit der Hand schreiben. Es geht auch hier um eine Ideologie des Lernens. Die Kinder sollen sich nun auch die Schrift eigenaktiv aneignen. Für die Kinder ist dies aber eine Überforderung.

Schreiben erschöpft sich nicht in einem technischen Prozess. Schreiben ist eine der entscheidenden Möglichkeiten des Menschen, seine Gedanken, Vorstellungen und Bedürfnisse zu objektivieren, Schreiben ist ebenso ein Akt der Kommunikation wie Ausdruck des Subjekts und die entscheidende Möglichkeit, einen Sachverhalt darzustellen. Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Der Prozess des Schreibens ist selbst einer Dynamik unterworfen, die nicht darauf reduziert werden kann, etwas, das schon im Kopf ist, einfach zu Papier oder auf einen Bildschirm zu bringen.“

Die Gedanken entwickeln sich im Prozess des Schreibens

Reden und Denken ergänzen sich nicht nur, finden nicht nur zu einer Übereinstimmung; im Reden bilden sich die Gedanken, und im Denken formen sich Worte. Schreiben, zumal professionelles journalistisches oder wissenschaftliches, aber auch die literarische Arbeit, erscheinen in unserer nüchternen Zeit eher als mechanischer Produktionsprozess denn als Mischung von Intuition und Spontaneität. Vom Schreiben in einem emphatischen Sinn, als Prozess, der eine eigene Dynamik entfaltet, kann eigentlich nicht mehr die Rede sein, lieber spricht man von Texterstellung oder Textproduktion.

Allerdings gibt es laut Konrad Paul Liessmann nach wie vor ein Schreiben, durch das sich die Gedanken überhaupt erst im Prozess des Schreibens entwickeln. Ist der Prozess des Schreibens selbst kreativ, dann weiß man in dem Moment, in dem man den ersten Satz formuliert, nicht, wie der letzte Satz lauten könnte. Schreiben in diesem avancierten Sinn heißt nicht, Gedanken, Argumente, Überlegungen oder Theorien in eine angemessene sprachliche Form zu bringen, sondern im Vertrauen auf die mögliche Eigendynamik des Schreibens darauf zu bauen, dass aus dem Fortschreiben der Wörter die Gedanken und Ideen überhaupt erst entstehen.

Von Hans Klumbies