Die Freiheit der Menschen bestimmt die Grenzen des legitimen staatlichen Handelns wie Wilhelm von Humboldt 1792 in seiner Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ schreibt. Programme, die den Wohlstand mehren sollen, gleichgültig, ob es sich dabei um das materielle oder um das moralisch-sittliche Wohl handelt, sind dabei immer Feinde der Freiheit. Sie drängen das Individuum durch eine Politik der Umverteilung oder durch sittliche Beaufsichtigung aus seiner Selbstverantwortung. Freiheit heißt in der Zeit des bürgerlichen Aufbruchs für Wolfgang Kersting Selbstbestimmung, Selbstbeanspruchung und Selbstständigkeit. Freiheit ist dabei ethische Autarkie und die Herausbildung einer eigenverantwortlichen Kompetenz der Lebensführung. Wolfgang Kersting, emeritierter Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat sich vor allem mit den Themen Sozialstaat, Gerechtigkeit und Gesellschaftsordnung beschäftigt. Er veröffentlichte Bücher über Platon, Machiavelli, Thomas Hobbes, John Rawls sowie über Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie.
Jeder Mensch kann seinen eigenen Vorstellungen vom Guten folgen
Für Wilhelm von Humboldt bedarf die Freiheit des Menschen auch einer Mannigfaltigkeit der Situationen. Das heißt, sie benötigt einen offenen Handlungsraum in der Gesellschaft, der ausschließlich durch formale Regeln der Koordination strukturiert ist, den jeder nach eigenen Belieben durchschreiten kann, solange er sich nur an die Regeln hält. Wolfgang Kersting erläutert: „Situationsmannigfaltigkeit besteht, wenn keinerlei Zwang alle individuellen Handlungen auf einen Zweck ausrichtet, wenn jeder seinen eigenen Vorstellungen vom Guten folgen kann und nur auf die äußere Verträglichkeit seiner Handlungen mit anderen achten muss.“
Dieser Theorie nach bedarf der Mensch keinerlei Leitung und benötigt auch keine Entlastung. Das einzige, was er benötigt, ist Schutz vor Gewalt und allgemeine Regeln der Koordination, die seine individuellen Entfaltungsräume seines Selbst begrenzen. Das ist laut Wolfgang Kersting das negative Wohl der Menschen, das zu besorgen der Staat da ist. Das positive Wohl hingegen muss seiner Meinung nach der autonomen Bestimmung jedes einzelnen Menschen selbst überlassen bleiben.
Die Not ist ein Geburtshelfer der Solidarität und Hilfsbereitschaft
Die Menschen sind verschieden. Sie unterscheiden sich in Bezug auf ihre Talente und Begabungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Diese lassen sich in ihrer Unterschiedlichkeit am besten zur Entfaltung bringen, wenn die gesellschaftlichen Handlungsräume eine möglichst geringe Dichte der Regulation aufweisen und daher die Entstehung einer Mannigfaltigkeit von Situationen erlauben. Und auch die Härten des Daseins darf der Staat laut Wolfgang Kersting nicht durch die kollektive Bereitstellung von Bequemlichkeiten mildern, ist doch die Strenge der Not ein wunderbarer ethischer Lehrmeister.
Wolfgang Kersting weist darauf hin, dass die Not aber auch ein Geburtshelfer der Solidarität und Hilfsbereitschaft ist, der sowohl den altruistischen Einstellungen Gelegenheit gibt, sich zu bewähren. Außerdem bringt sie eine Kultur privater Fürsorge hervor, indem sie die Bürger zu kluger freiwilliger Kooperation veranlasst, um kollektiv die notwendigen Grundgüter zu produzieren, die ein Einzelner sich in solchen Notsituationen gerade nicht in normaler Eigentätigkeit verschaffen kann.
Von Hans Klumbies