Einzelinteressen und Gemeinwohl müssen einen Ausgleich finden

Was die meisten Menschen unter der sogenannten westlicher Demokratie verstehen ist laut Ernst Fraenkel weitgehend durch eine Angleichung englischen und französischen Staatsdenkens und staatlicher Institutionen der beiden Länder zustande gekommen. Das Bekenntnis zu einer solchen Form von Demokratie erfordert gleichermaßen die Anerkennung der Befugnisse der Bürger, ihre Interessen frei und ungehindert vertreten zu können, wie die Achtung der Rechte der Gesamtheit, den Vorrang des Gemeinwohls gegenüber allen Interessengruppen durchzusetzen. Ernst Fraenkel schreibt: „Die Aufdeckung der dialektischen Spannung zwischen Interessenpräsentation und volonté générale, das niemals endende Bemühen, mittels freier und offener Auseinandersetzungen einen Ausgleich zwischen diesen beiden Prinzipien herzustellen, bildet eines der kennzeichnenden Merkmale der westlichen Demokratie.“

Der Führerstaat fand großen Anklang bei der Masse der deutschen Bevölkerung

An diesem geistigen Prozess hat laut Ernst Fraenkel auch Deutschland teilgenommen, bevor es die geistigen Brücken zu den westlichen Demokratien abbrach. Der deutsche Liberalismus, der das Dreiklassenwahlrecht erkämpfte und verteidigte, blieb dennoch dem Gedanken der volonté générale in seiner Doppelbedeutung als Gemeinwille und Gemeinwohl hörig. Ernst Fraenkel erklärt: „In der Brüchigkeit des deutschen liberalen Staatsdenkens reflektiert sich die zweifache Wurzel seines Ursprungs.“

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Frontstellung gegen die westlichen Demokratien zum Dogma erhoben. Außerdem forderte es die nationale Gesinnung, die Schwatzbude Parlament aus prinzipiellen Gründen abzulehnen. Zugleich fand die romantische Sehnsucht nach einem wahren Staat in der gleichzeitigen Forderung nach der Wiederherstellung des Ständestaats und der Begründung eines die Volksgemeinschaft autoritär repräsentierenden Führerstaats großen Anklang bei der breiten Masse der deutschen Bevölkerung.

Der Nationalsozialismus verbot die Bildung autonomer Gruppen

Die Anhänger des Führerstaats huldigten der brutal romantischen Vorstellung, dass das Gemeinwohl durch Unterdrückung aller Interessenvertretungen gesichert werden könnte. Ernst Fraenkel schreibt: „Unter Verzicht auf ständestaatliche Dekorationen strebte das nationalsozialistische Deutschland danach, durch Gleichschaltung und Ausschaltung aller Zwischeninstanzen und durch das Verbot der Bildung autonomer Gruppen in einer heteronomen Gesellschaft einen homogenen Gesamtwillen zu begründen.“

Ernst Fraenkel vertritt die These, dass seit den Tagen der Französischen Revolution die Vorstellung wie ein Gespenst in Europa umgeht, die Verwirklichung des Allgemeinwohls setze die gewaltsame Begründung eines homogenen Gemeinwillens durch Umformung der pluralistischen in eine monistische Gesellschaft voraus. Denn in einer pluralistischen Gesellschaft seien die desintegrierenden Kräfte zu stark, um die autonome Bildung eines Staatswillens zu ermöglichen, der den Anforderungen des Gemeinwohls Genüge tut.

Kurzbiographie: Ernst Fraenkel

Ernst Fraenkel, geboren 1898, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Hugo Sinzheimer. Gemeinsam mit Franz Neumann war er von 1927 bis 1933 Rechtsanwalt in Berlin. Seine Anwaltstätigkeit setzte er nach 1933 unter eingeschränkten Bedingungen in Berlin bis 1938 fort, als er in die USA fliehen musste. Seit 1951 war Ernst Fraenkel Dozent, von 1953 bis 1967 Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr Institut der Freien Universität Berlin. Er ist einer der Mitbegründer der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ernst Fraenkel starb 1975 in Berlin.

Von Hans Klumbies