Aristoteles untersucht den Wert der Gerechtigkeit

Unter Gerechtigkeit will Aristoteles jene Grundhaltung verstanden wissen, von der her die Menschen die Fähigkeit haben, gerechte Handlungen zu vollziehen, von der aus sie gerecht handeln und ein festes Verlangen nach dem Gerechten haben. Ebenso gilt die Ungerechtigkeit als Haltung, von der her die Menschen ungerecht handeln und ein festes Verlangen nach dem Ungerechten haben. Dennoch sind Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit für den griechischen Philosophen mehrdeutige Begriffe. Als Ausgangspunkt für diese Behauptung dienen ihm die verschiedenen Bedeutungen der Aussage, dass ein Mensch ungerecht sei. Als ungerecht gilt, wer die Gesetze, wer die gleichmäßige Verteilung der Güter, die bürgerliche Gleichheit, missachtet, und somit gilt offenbar als gerecht, wer das Gesetz und die bürgerliche Gleichheit achtet.

Gerechte Menschen achten die Gesetze

Da der ungerechte Mensch, laut Aristoteles, die gleichmäßige Verteilung der Güter missachtet, so richtet sich sein Streben natürlich auf den Besitz von Gütern: er will nicht alle, sondern solche, um die es in Glück und Unglück geht – Güter, die an und für sich immer einen Wert darstellen, für den einzelnen aber nicht unter allen Umständen. Die ungerechten Menschen freilich beten um sie und jagen ihnen nach. Allerdings entscheiden sie sich nicht immer nur für das Mehr, sondern auch für das Weniger, nämlich bei den Dingen, die ein Übel an sich darstellen.

Wer die Gesetzte missachtet ist ungerecht, wer die Gesetze achtet, folglich gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten Sinne etwas Gerechtes. Die Gesetzte betreffen Bestimmungen über den ganzen Lebensbereich. Für Aristoteles ist das Ziel der Gesetze der gemeinsame Vorteil für das gesamte Volk oder nur für die Adelsgeschlechter oder nur für die Gruppe, die ausschlaggebend ist, entweder gemäß ihrer persönlichen Trefflichkeit oder nach sonst einem ähnlichen Wertmaßstab.

Die Gerechtigkeit ist der oberste Vorzug des Charakters

Deshalb gilt ein Handeln als gerecht, das den Zweck hat, das Glück sowie dessen Komponenten für das Gemeinwesen hervorzubringen und zu erhalten. Aristoteles vertritt die Ansicht, dass die Gerechtigkeit als oberster unter den Vorzügen des Charakters gilt, und dass ihr weder der Morgenstern noch der Abendstern an Bedeutung gleichkomme. Ein griechisches Sprichwort besagt: „In der Gerechtigkeit ist jeglicher Vorzug beschlossen.“

Die Gerechtigkeit ist vollkommen, weil der, welcher sie besitzt, die Trefflichkeit nicht nur bei sich, sondern auch in der Beziehung zu anderen Menschen verwirklichen kann. Den schlechtesten Charakter zeigt, wer seine Minderwertigkeit gegen sich und seine Freunde wirksam werden lässt – den besten, wer seine Vorzüge nicht zu seinen eigenen Gunsten, sondern für andere gebraucht. Die Gerechtigkeit ist also nicht nur ein Teil der ethischen Werthaftigkeit, sondern die Werthaftigkeit in ihrem ganzen Umfang.

Von Hans Klumbies