Im öffentlichen Diskurs wird selten kritisch debattiert

Der öffentliche Diskurs vermittelt vielen Menschen das Gefühl, die wesentlichen Herausforderungen der Gesellschaft, in der sie leben, erkannt zu haben. Doch sie können dabei auch einer Täuschung unterliegen. Vielleicht werden sie umnebelt und entfernen sich von den Realitäten des Lebens? Aufgrund des Mainstreams werden Themen selten kritisch debattiert und Widersprüche übersehen. Allan Guggenbühl ergänzt: „Debattieren hieße ja, dass es eine Vielzahl verschiedener Positionen gibt, die alle legitim und die Anlass für Auseinandersetzungen sind. Eindrücklich zeigt sich dies bei den Themen Gender und Sexualität.“ Studiert man den aktuellen öffentlichen Diskurs, dann werden Geschlechtsunterschiede im Verhalten und Denken fast ausschließlich auf die Sozialisation und Stereotypien zurückgeführt. Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

Bei vielen Themen des öffentlichen Diskurses geht es nicht primär um Inhalte

Natürlich seien die Menschen körperlich verschieden, doch psychische Eigenschaften, Unterschiede in der Begabung, geschlechtsspezifische Kompetenzen und Interessen sind anerzogen. Jeder, der etwas anderes sagt, gilt als Verfechter alter Rollenmodelle. Es wird an diesem Dogma festgehalten, obwohl es diamentral den Lebenserfahrungen der überwiegenden Mehrzahl der Menschen widerspricht. Wissenschaftlich können auch klare Unterschiede festgestellt werden. Auch bei der Berufswahl will man von einer Differenz der Geschlechter nichts wissen.

Ob es um die Vermittlung des Gefühls moralischer Überlegenheit, Mainstreaming, die Inszenierung von Skandalen oder die Ausblendung konträrer Themen geht: Die meisten Menschen nehmen diese Mechanismen in der Regel nicht bewusst wahr, realisieren nicht, dass sie an Inszenierungen teilnehmen, bei denen es nicht primär um die Inhalte geht. Sie schließen sich dem Mainstream an, getrieben vom tiefen Verlangen dazuzugehören. Wer will schon eine abwegige Meinung vertreten, als komisch gelten oder durch Kritik seine Karriere gefährden?

Viele Menschen sind blind für die wirklichen Herausforderungen

Kritische Gedanken und Tiefenreflexion haben im öffentlichen Diskurs oft keine Chance. Andersartige Ideen und Einwürfe werden ignoriert, ganz im Sinne des alten Sprichworts: „Was nicht sein darf, existiert nicht.“ Allan Guggenbühl erläutert: „Das Denken richtet sich nach dem offiziellen Kanon und man wagt nicht, ungewöhnliche Schlüsse zu ziehen und sich selbst zu hinterfragen.“ Viele Menschen lassen sich immer wieder vom öffentlichen Diskurs vereinnahmen. Sie denken nur in den zugelassenen Kategorien und erkennen dadurch die eigenen Beschränkungen nicht.

Oft palavert man eifrig über Probleme, diskutiert grandiose Lösungen, während man blind ist für die wirklichen Herausforderungen. Man stillt sein Bedürfnis nach Aufregung, bestätigt sein Gefühl der Überlegenheit, während eine Katastrophe naht. Gemäß dem schottischen Ökonomen Niall Ferguson droht aufgrund des gigantischen Schuldenbergs der westlichen Staaten ein riesiges Wirtschaftsdebakel. Deutschland müsste zum Beispiel fast ein ganzes Jahr auf alle Ausgaben verzichten, um die Schulden zurückzuzahlen. Quelle: „Die vergessene Klugheit“ von Allan Guggenbühl

Von Hans Klumbies