Je höher der Kulturgrad des Menschen ist, desto mächtiger wird sein Über-Ich, das die Unterdrückung der Triebaggression sichert, zugleich aber selbst herrische Züge trägt. Das Ich-Ideal des kultivierten Individuums lädt sich mit jener Gewaltsamkeit auf, die es gerade bannen sollte. Peter-Andre Alt ergänzt: „Dort, wo Mangel existiert, verliert das Über-Ich dagegen seinen Einfluss.“ Sigmund Freund schreibt dazu: „Man denke an die Proletarier, deren Leben eine Häufung von Versagungen ist. Folge davon ist nicht ein besonders großartiges Schuldgefühl, sondern, was viel näher liegt, ein ungestillter Hunger nach Befriedigung mit Neigung zur rücksichtslosen Verleugnung der moralischen Schuld.“ Das Über-Ich leistet Widerstand gegen eine allzu direkte Triebabfuhr, was aber voraussetzt, dass das System der Überhöhung, Sublimierung und Idealisierung ausgebildet ist. Peter-André Alt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin.
Sigmund Freud erforscht den Zusammenhang von Trieb und Gewissen
Wo es an entsprechender Erziehung fehlt, kann sich kein Über-Ich zur Geltung bringen. Armut und Not lassen die physische Seite im Menschen übermächtig werden, so dass die Wirkungen des Über-Ich zurücktreten. Sigmund Freud weist an diesem Punkt den verbreiteten Einwand zurück, dass die Psychoanalyse rein materialistisch argumentiere, indem sie die Ideale des Menschen zu bloßen Ableitungen seines Triebes erkläre. Wer so denke, verwechsle Ursache und Wirkung, denn die Analyse erkläre nur die Gründe für die Entstehung von Idealen, ohne eine Weltanschauung daran zu knüpfen.
Peter-André Alt erläutert: „Wenn das Über-Ich sich als Instanz erweist, die vom Es abhängig ist und ähnlich unfrei wie das Ich bleibt, dürfe das keinesfalls, so Sigmund Freud, der Theorie angelastet werden. Deren Absichten gelten nicht der Entzauberung der Moral, sondern der Erkenntnis des Zusammenhangs, der Trieb und Gewissen verbindet.“ Sigmund Freud wollte anders als Friedrich Nietzsche keine Zertrümmerung christlicher Werte, er beschränkte sich auf eine Erkundung der Ursachen, aus denen sie hervorgehen.
Das Es umfasst den Eros in seiner sexuellen Form ebenso wie den Todestrieb
Sigmund Freud nutzte die Gelegenheit, mit Hilfe der neu entwickelten Kategorie des Es auch seine dualistische Trieblehre zu bekräftigen. Das Es umfasst den Eros in seiner sexuellen Form ebenso wie den Todestrieb. In der sadistischen Ausprägung der Libido sind beide unmittelbar verschmolzen. Todes- und Sexualtrieb können also in enger Verbindung, aber auch „entmischt“ auftreten, wie Sigmund Freud formulierte. Das Es vertritt eine doppelte Bedeutung des Triebs, die lebensspendende wie die zerstörerische Seite.
Das Ich, das den janusköpfigen Trieb sublimiert, setzt auch dem Tod Widerstand entgegen, denn es verfeinert die destruktiven Energien des Es. Diese Arbeit wird als individuelle Leistung gedacht, ohne dass, wie bei Alfred Adler, soziale Faktoren Berücksichtigung finden. Zu den wichtigsten Konsequenzen der triadischen Lehre von Ich, Es und Über-Ich gehört, dass sie ermöglicht, den Zusammenhang zwischen Zeit und Psyche genauer als zuvor zu beleuchten. Sigmund Freud schreibt: „Das Über-Ich bietet ein Beispiel davon, wie Gegenwart in Vergangenheit umgesetzt wird.“ Quelle: „Sigmund Freud“ von Peter-André Alt
Von Hans Klumbies