Das wirkliche Leben ist voller Geheimnisse und Poesie

Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino schreibt jeden Tag einige Stunden an seinen Romanen, selbst am Wochenende. In den Schreibpausen schlendert er am Main entlang oder durch Frankfurt und beobachtet Menschen und Tiere. Im Jahr 2004 wurde Wilhelm Genazino mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Sein aktueller Roman trägt den Titel „Wenn wir Tiere wären“. Er handelt wieder einmal von einem Außenseiter, einem grüblerischen Verlierer, die fast alle Werke des Autors bevölkern. Noch heute ist der achtundsechzigjährige Schriftsteller immer wieder überrascht, dass es Menschen gibt, die seine Romane lesen. Das ist keine Koketterie. Wilhelm Genazino sagt: „Es ist doch ein kleines Wunder, dass sich so viele Menschen für diese lebensbehinderten, oder sagen wir besser lebensgehemmten Männer interessieren.“

Es gibt keine glücklichen Menschen mehr

Wilhelm Genazino glaubt, dass er mit diesen entmutigten Männern den Prototyp des Massenmenschen der Gegenwart getroffen hat. Er geht davon aus, dass viele seiner Leser die Mutlosigkeit und die Frustration seiner Romanfiguren nachvollziehen können. Viele Männer haben heute Angst vor Entscheidungen und fürchten sich davor Bindungen einzugehen. Wilhelm Genazino sagt: „Sie leiden unter einem Gegenwartsdruck und lassen sich von meinen Büchern trösten.“

Laut Wilhelm Genazino wird es für viele Menschen immer anstrengender am Arbeitsleben teilzunehmen. Sie fühlen sich schutzlos, ja an der Nase herumgeführt, weil sie sich von den Gedanken an die Karriere haben leiten lassen und heute dafür mit einem Leben bestraft werden, dass sie nie so führen wollten. Diese Menschen trauen sich nicht einmal mehr zu klagen, weil sie um ihre Abhängigkeit von der Arbeitswelt wissen. Der Schriftsteller bezweifelt sogar, dass es in der Moderne überhaupt noch glückliche Menschen gibt, sondern im Höchstfall zufriedene Zeitgenossen.

Das Internet ist ein billiger Ersatz für die Realität

Wilhelm Genazino vertritt die These, dass inzwischen auch immer mehr Frauen diesen Gegenwartsdruck verspüren, wodurch bei ihm ein gewisser Schauder erzeugt wird. Er erklärt: „Die Business-Welt, der Kampf um Anerkennung – das sind antrainierte Verhaltensweisen, die nicht zu einem weiblichen Wesen passen.“ Frauen sind seiner Meinung nach nicht dazu prädestiniert neben den sowieso nötigen Alltagskämpfen noch den Kampf um die Karriere zu absolvieren. Der Schriftsteller sagt: „Mir tun diese Frauen leid. Sie sind Opfer einer Politik, die ihnen seit Jahren erfolgreich einredet, dass sie einen anstrengenden Job brauchen, um sich selbst verwirklichen zu können.“

Die Liebe ist für Wilhelm Genazino dann gegeben, wenn zwei Menschen zusammen sind, ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren. Er erklärt: „Sie sind, ohne dass sie sich dieser Tatsache bewusst sind, glücklich miteinander. Glück ohne Beiläufigkeit ist kein Glück.“ Das digitalisierte Leben der Gegenwart hat für den Schriftsteller nichts mit der Wirklichkeit des Daseins zu tun. Das Internet, die sozialen Netzwerke sind nur ein billiger Ersatz für die Realität. Wilhelm Genazino sagt: „Das wirkliche Leben ist geheimnisvoller und poetischer. Es zu finden ist uns aufgegeben, man kann es nicht in einem Kaufhaus erstehen.“

Von Hans Klumbies