Henri Lefebvre beschreibt den Einzug des Ödipus in Theben

Am Hofe des Königs Polybos stach der junge Ödipus laut Henri Lefebvre sowohl durch seine Kraft und Schönheit als auch durch seine Intelligenz hervor. Zugleich erstaunte er seine Umwelt durch einen wilden Charakter. Ödipus verkehrte mit keinem Mädchen und mit keiner Frau. Manchmal ging er in die Berge zu den wilden Tieren und starb dort fast vor Hunger. Immer wieder fragte er sich: „Wer bin ich?“ „Und warum bin ich?“ „Warum bin ich nicht wie die anderen, wie meine Brüder, die nehmen, was das Leben ihnen an Gutem bietet, und die unnötiger Pein aus dem Weg gehen?“ Um auf diese Fragen Antworten zu erhalten, beschloss Ödipus eines Tages, das Orakel zu befragen. Er hoffte, der Gott des Lichts würde ihm erklären, dass er in seiner Familie und seinem Gemeinwesen nicht überflüssig sei.

Ödipus löst das Rätsel der Sphinx

Doch das Orakel bezeichnete Ödipus als ein Monster unter den Menschen, als einen Schandfleck des Gemeinwesens und der Welt. Nicht weniger rätselhaft fügte laut Henri Lefebvre das Orakel hinzu, dass er diesem sonderbaren Schicksal einen unsterblichen Ruhm verdanken würde. Voller Entsetzen floh Ödipus daraufhin wieder in seine geliebten Berge. Niemals mehr wollte er sie verlassen. Als er seine Verzweiflung überwunden hatte, stieg Ödipus von den Bergen hinab zur nächstgelegenen Stadt Theben, die er in der Morgendämmerung erreichte.

Um Theben betreten zu dürfen, musste Ödipus ein Rätsel der Sphinx lösen. Sie stellte ihm folgende Frage: „Welches Wesen läuft morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen?“ Ödipus zögerte kurz und antwortete dann: „Sphinx, das Wesen, das morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen läuft, ist der Mensch. Das bin ich.“ Dann fügte er hinzu, dass ihr Rätsel die geflügelte Jungfrau entlarvt habe, die krummklauige Göttin und Tochter. Da er nun wisse, wer sie sei, gehöre sie ihm.

Ödipus verflucht sich und kratzt sich die Augen aus

Die Sphinx verwandelte sich darauf in ein Häufchen Asche. Unter dem Jubel der Bürger von Theben betrat Ödipus seine Heimatstadt, ohne es zu wissen. Plötzlich war er ein Held. Jokaste empfing den jungfräulichen Knaben in ihrem Bett. Henri Lefebvre schriebt: „Sie war in der Liebe bewandert, reif und zärtlich. Gemeinsam erreichten sie den Gipfel der Lust und des Glücks. Es war eine sonderbare Leidenschaft.“ Auch als er zum König gekrönt war, drückt sich Ödipus nicht vor der Arbeit. Er ging über die Felder und sprach mit Sklaven, Bauern sowie Hirten.

Ödipus verließ den Palast und stellte Reisenden Fragen, wie es früher die Sphinx getan hatte. Als ein listiger Bauer seine Frage beantworten konnte, begriff Ödipus sogleich, dass er selbst zur Sphinx geworden war und stieß einen Schrei der Wut und Verzweiflung aus. Ödipus rief: „Ich habe mich soeben verurteilt! Ich habe den Fluch gegen mich ausgesprochen!“ Er grub seine Fingernägel in sein Gesicht und kratzte sich die Augen aus. Henri Lefebvre ergänzt: „Und ohne sich noch einmal zum Palast zu wenden, wo Jokaste sich am Hauptbalken des Ehegemachs erhängt hatte, begann Ödipus seine lange Wanderung.“

Kurzbiographie: Henri Lefebvre

Henri Lefebvre, der von 1901 bis 1991 lebte, war ein marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph. Lage bevor es Mode wurde, die Probleme des Alltagslebens auch für die Theorie der Philosophie, Soziologie und Ästhetik zu reklamieren, hat Henri Lefebvre die Dialektik zwischen Überbau – Kultur, Wissenschaften, Recht, Religion – und der Alltagswelt der Menschen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht.

Ein der aufschlussreichsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist sein Buch „Einführung in die Modernität“ indem er Ideen, Symbole, menschliche Ausdrucksweisen und Einstellungen betrachtet, die das mitkonstituiert haben, was heute moderne Gesellschaft heißt. Henri Lefebvre zeigt einen Zusammenhang zwischen Handlungen und Problemen auf, in dem die Menschen sich wiedererkennen und der die Findung ihrer Identität ebenso wie ihre Deutung der Welt bestimmt.

Von Hans Klumbies