Das Publikum der Tragödie erlebt eine Katharsis

Doch was ist mit den Tragödien? Sind sie Manifestationen des anthropologischen Universums des Weinens? Oder sind sie Ausdruck einer anderen „tragischen universellen Erfahrung? Identifizieren Tragödien einen Menschen mit sich selbst, wurzeln sie in Selbstmitleid? Ágnes Heller antwortet: „Es ist leicht zu erkennen, dass das Gegenteil der Fall ist. Auch in diesem Punkt war Aristoteles das Genie, das das Offensichtliche erfand. Das Publikum, Zielgruppe einer Tragödie, erlebt eine „Katharsis“. Katharsis ist die Befreiung von unseren eigenen Ängsten und unserem Selbstmitleid, die „Reinigung unserer Seele“ von der Identifikation mit uns selbst.“ Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.

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Friedrich Nietzsche entwickelt eine Philosophie des Fragens

Schaut man genauer hin, verbergen sich schon in Friedrich Nietzsches Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ Aphorismen, seine Kurz- und Kürzesttexte. Sie nehmen hier in ihrer Gestalt die verschiedensten Formen an. Andreas Urs Sommer kennt sie: „Selbstgespräche gibt es ebenso wie kurze Dialoge. Sprichwörtlich pointierte Epigramme ebenso wie Experimentanleitungen. Merksätze ebenso wie Miniaturerzählungen, Prosagedichte ebenso wie Parabeln.“ Vielen dieser Texte gemeinsam ist, wenigstens dem Anspruch nach, ihr „dickes Ende“: Das in ihnen nämlich sehr viel mehr steckt, als der knappe Raum, den sie einnehmen, eigentlich zu fassen erlaubt. In seinem Nachlass schrieb Friedrich Nietzsche 1885: „In Aphorismen-Büchern gleich den meinigen stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten.“ Andreas Urs Sommer lehrt Philosophie an der Universität Freiburg i. B. und leitet die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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Aristoteles zählt die Dichter zu den besten Lehrern des Volkes

Aristoteles zählt in Übereinstimmung mit der griechischen Tradition die Dichter zu den besten Lehrern des Volkes. Dabei spricht er ihnen laut Otfried Höffe nachdrücklich die Aufgabe zu, starke emotionale Wirkungen hervorzurufen. Aristoteles billigt der Dichtung eine eigene vorrangig nicht intellektuelle, sondern affektive Form von Rationalität zu, was auf ein Plädoyer für ein erhebliches Maß an ästhetischer Autonomie hinausläuft. Der griechische Philosoph befasst sich mit dem Wesen der Dichtung, mit ihren verschiedenen Gattungen und mit ihrer anthropologischen Grundlage. Dabei sieht er das Wesen in jener Mimesis, Nachahmung, die nicht etwa täuschende Echtheit sucht. Vielmehr besagt die Mimesis, dass selbst eine geniale Fiktion an vorgängig existierende Wirklichkeit, insbesondere an die emotionale, soziale und politisch Natur und Kultur des Menschen, zurückgebunden bleibt. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Autorität hat wenig oder überhaupt nichts mit Gewalt zu tun

Autorität basiert auf Ungleichheit und bewirkt, dass jemand eine selbstverständliche Macht über eine andere Person ausübt, die sich ihr mehr oder weniger freiwillig unterwirft. Autorität hat daher wenig oder überhaupt nichts mit Gewalt zu tun, denn die Unterwerfung geschieht auf freiwilliger Basis. Das Entscheidende steckt für Paul Verhaeghe in der „Selbstverständlichkeit“ dieser Unterwerfung. Autorität funktioniert wie Befehlsgewalt oder militärisches Kommando, das einem von außen übertragen wird: Autorität besitzt, wer das Sagen hat. Das Kommando kann man bekommen, ausüben, verlieren, abgeben – der Ursprung der Autorität liegt also außerhalb der Person selbst. Das ist der wichtigste Unterschied zur Macht. Macht hat eine zweigleisige Struktur und umfasst beispielsweise zwei Personen, von denen eine stärker ist als die andere und daher ihren Willen durchsetzen kann. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Sigmund Freud entdeckt das Unbewusste

Sigmund Freud (1856 – 1939) war der Entdecker des Unbewussten. Er erkannte, dass vieles von dem, was ein Mensch tut, von versteckten Wünschen motiviert wird, zu denen man keinen direkten Zugang hat. Aber trotzdem beeinflussen sie die menschlichen Handlungen. Nigel Warburton erklärt: „Es gibt Dinge, die wir tun wollen, dies aber nicht erkennen. Diese Wünsche üben großen Einfluss auf unser Leben aus und auf unsere Art und Weise, die Gesellschaft zu organisieren. Sie sind die Quelle der besten und schlimmsten Aspekte der menschlichen Zivilisation.“ Sigmund Freud war verantwortlich für diese Entdeckung, auch wenn sich ähnliche Vorstellungen schon in einigen Schriften von Friedrich Nietzsche finden. Der Philosoph Nigel Warburton ist Dozent an der Open University. Er gibt außerdem Kurse über Kunst und Philosophie am Tate Modern Museum.

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Mythen vermitteln tiefe Einblicke in die menschliche Seele

Die neue Sonderausgabe 02/2014 des Philosophie Magazins trägt den Titel „Die griechischen Mythen. Was sie über uns verraten“. Chefredakteur Thomas Lehmkuhl erklärt im Editorial den Unterschied zwischen Literatur und Mythen: „Mythen freilich sind etwas anderes als Literatur, denn Literatur ist im Wesentlichen durch ihre sprachliche Gestalt bestimmt, wohingegen Mythen so oder so erzählt werden können und sich über die Jahrhunderte auch immer wieder verändert haben.“ Das abendländische Denken stützt sich auf die beiden Säulen Mythos und Logos. Die Mythen handeln von Helden, Göttern und Halbgöttern, von Wesen, an die die Menschen einst glaubten. Der Ägyptologe und Kulturtheoretiker Jan Assmann glaubt, dass es in Einzelfällen schon möglich sein könnte, dass Mythen einen wahren Kern enthalten. Die Wahrheit der Mythen ereignet sich seiner Meinung nach allerdings im Erzählen, in der rituellen Aufführung und im Akt der Identifikation.

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Henri Lefebvre beschreibt den Einzug des Ödipus in Theben

Am Hofe des Königs Polybos stach der junge Ödipus laut Henri Lefebvre sowohl durch seine Kraft und Schönheit als auch durch seine Intelligenz hervor. Zugleich erstaunte er seine Umwelt durch einen wilden Charakter. Ödipus verkehrte mit keinem Mädchen und mit keiner Frau. Manchmal ging er in die Berge zu den wilden Tieren und starb dort fast vor Hunger. Immer wieder fragte er sich: „Wer bin ich?“ „Und warum bin ich?“ „Warum bin ich nicht wie die anderen, wie meine Brüder, die nehmen, was das Leben ihnen an Gutem bietet, und die unnötiger Pein aus dem Weg gehen?“ Um auf diese Fragen Antworten zu erhalten, beschloss Ödipus eines Tages, das Orakel zu befragen. Er hoffte, der Gott des Lichts würde ihm erklären, dass er in seiner Familie und seinem Gemeinwesen nicht überflüssig sei.

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