Alexander Mitscherlich ist mit der Demokratie nicht zufrieden

Die Demokratie ist für Alexander Mitscherlich ein Prozess der Bewusstseinsentwicklung angesichts bisher unbekannter Probleme. Das heißt, die Demokratie dient vorerst nur dazu, ein Gleichgewicht der Interessen zu arrangieren. Der Wettstreit der Meinungen wird noch nicht dazu benutzt, die Grundprobleme der Fortexistenz der Demokratie diskutieren zu lassen. Stattdessen überbieten sich laut Alexander Mitscherlich was die Fragen der Zukunft und der Gegenwart betrifft, Regierung und Opposition in einer christlich dekorierten Unterwürfigkeit vor den Besitzern von Grund und Boden. Alexander Mitscherlich schreibt: „Jedoch könnte nur auf dem Wege über die parlamentarische Diskussion das Bewusstsein der Allgemeinheit erreicht und ihr Vorschläge einer gerechten Lösung der Eigentumsansprüche auf städtischen Grund und Boden zur Kenntnis gebracht werden.“ Ohne Zweifel würde dies allerdings die heftigsten Reaktionen auslösen.

Der Mensch und die Umwelt werden zu Objekten der Manipulation degradiert

In der städtischen Kultur spielte sich der Wechsel zwischen Stadtumwelt und Naturumwelt ab. Gerade diese Abgrenzung eines knotenpunkthaft verdichteten Kulturraumes, des Stadtraumes, hat laut Alexander Mitscherlich zum stadttypischen Selbstbewusstsein geführt. Alexander Mitscherlich fügt hinzu: „Ein Bewusstsein, das gegen den Hintergrund einer weniger oder gar menschengeformten Landschaft stand.“ Je besser es gelingt die Umwelt zu manipulieren, desto perfekter lässt sich auch der Mensch zum Objekt der Manipulation degradieren.

Die gleiche pervertierte Einstellung ist für Alexander Mitscherlich auch im Verhältnis zur Natur deutlich zu erkennen. Sie wird auf ein Handelsobjekt für Statussucher reduziert oder zu einem idealisierten Zielobjekt, in das natursuchende Ferienmenschen einfallen. Alexander Mitscherlich beobachtet in den stadtähnlichen Agglomerationen, die vor seinen Augen entstehen, auch eine fortschreitende Vernichtung vieler städtischen Freiheiten und die Herstellung einer Privilegiertheit und Unterprivilegiertheit, die an die gesellschaftlichen Wurzeln geht.

Die Gewohnheit hält das Denken in Schach

Alexander Mitscherlich erläutert: „Unsere Kultur wird sich nur dann gegen andere konkurrierende Gesellschaftsordnungen behaupten können, wenn sie von der ihr immanenten Aufklärungsidee weiterhin Gebrauch zu machen versteht, das heißt, dort auf Gleichheit sinnt, wo nur diese Gleichheit erst realisierbare Freiheit garantiert.“ Das ängstliche Schweigen des deutschen Parlaments, die Fahrlässigkeit, die beim Wiederaufbau der Städte herrschte und einer Anarchie der Privatinitiativen überlassen wurde, stimmt Alexander Mitscherlich traurig und nachdenklich.

Die Gewohnheit hält laut Alexander Mitscherlich das Denken besonders dort, wo durch Denken zunächst Unbehagen entstehen muss, in Schach. Alexander Mitscherlich ergänzt: „Die sekundäre Ausbeutung dieser Trägheit durch Entwicklung von Tabus besorgt den Rest.“ Alexander Mitscherlich weist noch einmal darauf hin, dass städtische Regionen mehr und mehr zum kontrastlosen, einzigen und ausschließlichen Lebensraum für Millionen von Menschen werden. Auch alle Naturprodukte und alles was an Naturprozesse erinnert, erscheinen in technischer Aufbereitung und Verpackung.

Kurzbiographie: Alexander Mitscherlich

Der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, leitete von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Im Jahr 1969 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu seinen Hauptwerken zählen: „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ sowie „Die Idee des Friedens“. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main.

Von Hans Klumbies