Jede Epoche hatte dies kostbarste aller Güter: das Bild des erhofften, begehrten, möglichen „Neuen Lebens“. Henri Lefebvre schreibt: „Für das Neue Leben war man imstande zu sterben, folglich auch zu töten.“ Gekennzeichnet ist die Suche nach einem Neuen Leben durch eine mehr oder minder radikale Kritik des Bestehenden sowie die gründliche Zurückweisung der bestehenden Ordnung. Denn das Neue Leben ist bereits da, in der Nähe, ist möglich, fast gegenwärtig, allerdings noch unterdrückt im Abseits und harrt dort des Augenblicks der Befreiung. Das innovative Dasein, das etwas zum Vorschein bringen soll, ist indes nur scheinbar neu. Es ist absolut, außerhalb der Zeit – ebenso alt wie neu. Es ist mit den Worten Henri Lefebvres gesprochen Wiederholung, Wiedergeburt, Rückkehr zum Verlorenen, Wiederherstellung des Unverstümmelten sowie Auferstehung.
Das Bild vom neuen Leben hält einige Erinnerungen an die großen Perioden der Humanität fest
Die Hoffnung auf das einzigartige und absolute Ereignis verändert das Wesen der Dinge und Menschen, nicht bloß deren Außenhaut und Anschein. Angeklagt sind in der Historie immer die dem Neuen sich verweigernden Mächte. Das neue Leben nahm laut Henri Lefebvre allerdings auch oft eine überaus lächerliche Wendung: „Als Rückkehr zur Erde und zur Natur, zu Kleingruppen und winzigen Gemeinschaften der wechselseitigen Exaltation, als unterschiedlose Abschaffung des durch urbane und bürgerliche Entwicklung kapitalisierten Besitzstandes.
Was die der Vergangenheit entliehenen Elemente im Bild des Neuen Lebens betrifft, so enthalten sie für Henri Lefebvre durchaus eine Spur geschichtlicher Wahrheit. Der Mythos des innovativen Daseins hat aber seiner Meinung nach nichts mit der griechischen Mythologie gemein. Es handelt sich dabei auch nicht um eine Idee von der Art, wie es zum Beispiel die dauerhafte Vorstellung der Revolution ist. Das Bild vom Neuen Leben hält aber, dynamisch und stimulierend, einige Erinnerungen an die großen Perioden der Humanität fest.
Die Geschichte ist eine Abfolge von Fortschritten und Rückschritten
Henri Lefebvre behauptet, dass es Zeiten der Freude, der Entfaltung und Gelassenheit gibt. Das alles hat allerdings nichts mit Ausgeglichenheit zu tun, da nichts mehr trügerisch ist als dieses Wort. Desgleichen gibt es Epochen, in denen sich die Chancen auf ein innovatives Leben häufen, das Mögliche zum Greifen nahe ist. Unglücklicherweise, so scheint es Henri Lefebvre, werden die Menschen stets erst im Nachhinein der erloschenen Möglichkeiten gewahr. Die Chancen des Augenblicks sind vernichtet, wenn die Menschen diesen Moment nicht nutzen.
Die Geschichte ist für Henri Lefebvre eine Abfolge von Forschritten, Rückschritten und neuerlichen Schritten, doch niemals der gleichzeitige Vormarsch aller Interessen und Formen. Henri Lefebvre ergänzt: „Wie die Natur vergeudet auch die Geschichte auf sinnlose Weise. Wie die Natur mischt sie das Monströse mit dem Normalen, das seinerseits durch Selektion des Monströsen zustande kommt.“ Wie die Natur wirft sie mehr oder weniger lebensfähige Mutanten ins Dasein, die entweder überleben oder absterben.
Kurzbiographie: Henri Lefebvre
Henri Lefebvre, der von 1901 bis 1991 lebte, war ein marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph. Lage bevor es Mode wurde, die Probleme des Alltagslebens auch für die Theorie der Philosophie, Soziologie und Ästhetik zu reklamieren, hat Henri Lefebvre die Dialektik zwischen Überbau – Kultur, Wissenschaften, Recht, Religion – und der Alltagswelt der Menschen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht.
Ein der aufschlussreichsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist sein Buch „Einführung in die Modernität“ indem er Ideen, Symbole, menschliche Ausdrucksweisen und Einstellungen betrachtet, die das mitkonstituiert haben, was heute moderne Gesellschaft heißt. Henri Lefebvre zeigt einen Zusammenhang zwischen Handlungen und Problemen auf, in dem die Menschen sich wiedererkennen und der die Findung ihrer Identität ebenso wie ihre Deutung der Welt bestimmt.
Von Hans Klumbies