Wie aus Deutschland eine Tugendrepublik geworden ist

Der Journalist Harald Martenstein vertritt die These, dass der Glaube an das aufgezwungene Gute mit der Hilfe von Gesetzen, Verordnungen und Überwachung durch die modernen Medien einen Terror der Tugend erschafft. Jede Gesellschaft hat Normen, Vorstellungen von Moral, Ideen von Gut und Böse. Gleichzeitig hat es laut Harald Martenstein noch nie eine Gesellschaft gegeben, in der sich alle ständig an diese Normen gehalten hätten. Das vermutet jeder, und jede Gesellschaft akzeptiert dies bis zu einem gewissen Grad. Harald Martenstein fügt hinzu: „Moralische Normen und Gesetze können nämlich keine perfekten Menschen aus uns machen. Sie verhindern lediglich durch Sanktionen, zu denen auch der Gesichtsverlust und die Blamage gehören, dass allzu viele allzu sehr über die Stränge schlagen.“

Die Deutschen werden zu Menschen ohne Geheimnis 

Die Deutschen von heute glauben, freier zu sein als alle Generationen zuvor, was in gewisser Weise gemäß Harald Martenstein auch stimmt. Gleichzeitig stand seiner Meinung nach aber noch nie eine Gesellschaft, die keine Diktatur ist, so sehr unter Kontrolle. Die Menschen prostituieren sich auf Facebook, geben in Fernsehshows vor einem Millionenpublikum ihr Innerstes preis, kommunizieren ohne Atempause, wie es die Ameisen tun. Harald Martenstein kritisiert: „So werden wir nach und nach zu Menschen ohne Geheimnis. Sein und Schein sollen sich, einmalig und erstmals in der Geschichte, nicht mehr unterscheiden. Alles soll gut ausgeleuchtet sein, transparent.“

Die Geschichte ist für Harald Martenstein ein einziger Skandal, weil es in der Historie immer einen Unterschied zwischen dem offiziellen Leben, der Norm, der Inszenierung und dem tatsächlichen Leben gegeben hat. Heute dagegen ist niemand mehr vor der Tugendwacht sicher. Nicht der Jugendliche, der nach neuen Erfahrungen hungert, nicht der Ehemann, der eine Geliebte hat und selbst die junge Mutter wird überwacht. Harald Martenstein zitiert Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der 1837 folgende Ansicht vertrat: „Die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich.“

Eine Gesellschaft mus kleine Verfehlungen und Abweichungen tolerieren

Für Harald Martenstein hat sich Deutschland inzwischen in eine Tugendrepublik verwandelt. Hierbei verschmelzen seiner Meinung nach drei geistige und politische Tendenzen der letzten Jahre. Harald Martenstein konkretisiert: „Erstens die Tendenz zur Transparenz, die neue Geheimnislosigkeit. Zweitens die Idee, dass ein moralisch einwandfreies Leben des Individuums staatlich durchsetzbar sein könnte. Drittens der Gedanke der möglichst vollständigen Risikovermeidung, wobei die Entscheidung über individuelle Risiken nicht mehr im Ermessen des Individuums steht.“

Beim Moralismus und der Vermeindung von Risiken kommt es laut Harald Martenstein allerdings auf die Dosis an. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit ist seiner Meinung nach ganz gewiss ehrenwert. Es kann aber schnell ins Gegenteil umschlagen. Harald Martenstein warnt: „Der Versuch, eine vollkommen gerechte Gesellschaft zu errichten, kann aber nachweislich im Stalinismus enden.“ Er ergänzt: „Eine Gesellschaft, in der kleine Verfehlungen und marginale Abweichungen vom rechten Pfad noch nach Jahrzehnten zum Ende einer Berufslaufbahn und zu einer öffentlichen Charakter-Hinrichtung führen, ist unmenschlich.“

Von Hans Klumbies