Laut Cicero gibt es zwei Ausprägungen der Ungerechtigkeit. Die erste kommt bei Menschen vor, die Unrecht verursachen, die zweite bei denjenigen, das Unrecht von denen nicht fernhalten, denen es angetan wird, obwohl die die Macht hätten, dagegen einzuschreiten. Denn wer ungerechterweise einen Angriff auf jemanden unternimmt, sei es aus Zorn oder irgendeiner anderen Erregung heraus, der scheint gleichsam die Hand gegen seinen Nächsten zu erheben. Wer sich aber gegen dieses Unrecht nicht wehrt und ihm nicht entgegentritt, wenngleich er es könnte, steht ebenso in der Schuld, wie wenn er seine Eltern, seine Freunde oder seine Vaterstadt verraten hätte.
Habsucht erzeugt Ungerechtigkeit
Jene Ungerechtigkeiten, die mit dem Ziel anderen zu schaden, begangen werden, haben laut Cicero ihren Ursprung oft in der Angst, wenn derjenige, der den Mitmenschen zu schädigen beabsichtigt, fürchtet, ihm würde Gewalt angetan, wenn er dem anderen die Chance dazu ließe. Cicero erläutert: „Meistenteils aber wenden sie sich ungerechtem Handeln zu, um zu erreichen, was sie zum Ziel ihrer Wünsche erhoben haben. Bei diesem Schuldigwerden hat den weitesten Einfluss die Habsucht.“
Für Cicero wird der Reichtum einerseits für die notwendigen Lebensbedürfnisse, andererseits zum Genuss der Lebensfreuden angestrebt. Bei Menschen mit höherer Gesinnung, hat das Verlangen nach Besitz ihren Blick auf die Mittel und Möglichkeiten gerichtet, sich anderen gefällig zu erweisen. Cicero tadelt allerdings nicht die Vermehrung des Familienvermögens, soweit sie niemandem schadet, nur das Unrecht ist dabei stets zu meiden. Am häufigsten vergessen die Menschen die Gerechtigkeit, wenn sie nach militärischen Rängen, nach Ehrenstellen oder Ruhm streben.
Die Grundforderung der Gerechtigkeit
Bei der Ungerechtigkeit ist der Unterschied laut Cicero sehr groß, ob in irgendeiner Erregung, die meist nur sehr kurz und auf den Augenblick beschränkt ist, oder vorausgeplant und vorsätzlich ein Unrecht begangen wird. Er schreibt: „Leichter wiegen nämlich die Verfehlungen, die in irgendeiner plötzlichen Aufregung unterlaufen, als diejenigen, die mit Bedacht und Absicht angetan werden.“ Auch für das Nichteinschreiten bei Ungerechtigkeiten scheint es mehrere Gründe zu geben. Cicero nennt die Feindschaft, die Mühsal oder Kosten, dazu kommen Nachlässigkeit, Trägheit und Untüchtigkeit.
Cicero zitiert Platon, der über die Philosophen gesagt hat, dass sie deswegen gerecht seien, weil sie sich mit der Erforschung der Wahrheit befassen, und weil sie das verschmähen oder verachten, worum der Rest der Menschheit mit Eifer erstrebt und darum gegeneinander kämpft. Wer sich aus der Gemeinschaft zurückzieht, scheint keinem ein Unrecht zu tun. Dennoch wird er schuldig, da er für die Lebensgemeinschaft nichts beiträgt aus seiner Arbeit und seinen Mitteln. Denn für die Grundforderung der Gerechtigkeit hält Cicero die Absicht, dass niemand geschädigt und dem Gemeinnutzen gedient wird.
Von Hans Klumbies