Die Wähler sind unberechenbar geworden

Ein Phänomen erobert gerade die westlichen Demokratien: die Wutwähler. Die Wut richtet sich gegen die Eliten in der Politik und der Wirtschaft, gegen die etablierten Parteien, die Mainstream-Medien, gegen Freihandel und natürlich gegen Einwanderung. Viele Brexiteers in Großbritannien, Anhänger von Donald Trump in den USA oder Wähler von Marie Le Pen in Frankreich. „Take back control“, die Kontrolle zurückgewinnen, war die Parole der Befürworter des Brexits. Es könnte der Hilferuf aller Wutwähler weltweit sein. In einer Zeit, in der zunehmend komplexe Freihandelsverträge oder unbekannte EU-Kommissare über die eigenen Lebensbedingungen bestimmen, sehnen sie sich wieder nach Grenzen, nach nationaler Gesetzgebung, einer abgeschotteten Wirtschaft. Es gibt dieses Phänomen nicht erst seit gestern. Aber die Wut hat in diesem Jahr einen Siedepunkt erreicht, befeuert von der Finanzkrise und der Eurokrise, von der Destabilisierung des Nahen Ostens und den daraus folgenden Flüchtlingsströmen, vom Aufstieg Chinas und der Deindustrialisierung der vergangenen Jahrzehnte.

Populistische Bewegungen sind fremdenfeindlich und nationalistisch

Die Wähler sind unberechenbar geworden. Viele wenden sich von den traditionellen politischen Kräften ab und den neuen populistischen Bewegungen zu. Die Wut der Wähler ist oft weder eindeutig links noch klar rechts. Aber sie gefährdet die westlichen Demokratien von innen heraus, wie eine Autoimmunerkrankung. Die Bewegungen, die von ihr profitieren, sind meist autoritär, fremdenfeindlich, nationalistisch. Die Menschen, die sich auf Donald Trump, den Brexit, auf Marine Le Pen einlassen, sind oft die weniger Gebildeten, die Älteren, es sind Menschen, die auf dem Land oder in einstigen Industrieregionen wohnen.

Das sagt viel aus über eine Welt, in der so viel Vermögen angehäuft wurde wie nie zuvor, aber bei Weitem nicht alle gleichmäßig davon profitieren. Der amerikanische Politikwissenschaftler William Galston sagt: „Die Vorteile der Globalisierung gelten nicht gleichermaßen für alle gesellschaftlichen Schichten. Sie haben die Mittel- und die Arbeiterklasse nicht genügend erreicht.“ Das durchschnittliche Jahreseinkommen einer amerikanischen Familie ist seit 1999 um rund 5.000 Dollar auf 53.657 Dollar im Jahr 2014 gefallen.

Die politische Auseinandersetzung findet nicht mehr zwischen Weltanschauungen statt

Der amerikanische Traum, der besagt, dass jeder den Aufstieg schaffen kann, gilt für viele nicht mehr. Auf der anderen Seite besitzen 400 Amerikaner heute so viel Vermögen wie zwei Drittel der restlichen Gesellschaft zusammengenommen. Der Freihandel hat Reichtum geschaffen, er hat aber auch die Welt verändert. Aus den Industriegesellschaften des Westens sind postindustrielle Gesellschaften erwachsen, deren Werkbänke heute in China, Malaysia oder Taiwan stehen. Dieser Strukturwandel hat zur Folge, dass im Westen Arbeitskräfte mit neuen Qualifikationen gebraucht werden.

Nicht mehr die Facharbeiter, die jahrzehntelang das Rückgrat westlicher Volkswirtschaften bildeten. Sondern gut ausgebildete Akademiker und Programmierer, mobil, vernetzt und weltoffen. Sie haben in Großbritannien überwiegend für den Verbleib in der Europäischen Union (EU) gestimmt. Die Grenze der politischen Auseinandersetzung verläuft heute deshalb oft nicht mehr zwischen Weltanschauungen, sondern zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern. Die Welt teilt sich auf in jene, die von der schrankenlosen Welt profitieren, und jene, die glauben, im Stich gelassen zu werden. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies