Religion gilt heutzutage als Inbegriff der Ausgrenzung, Streit und Hass. Doch laut Yuval Noah Harari war die Religion die dritte große Kraft, die zur Einigung der Menschheit beitrug. Da alle Gesellschaftsordnungen von den Menschen erfunden worden sind, sind sie zerbrechlich – und je größer eine Gesellschaft, desto fragiler ist sie. Den Religionen kam eine zentrale Aufgabe zu, weil sie diese zerbrechlichen Gefüge legitimierten, indem sie auf einen übermenschlichen Willen verwiesen. Yuval Noah Harari erläutert: „Die Religionen behaupten nämlich, dass unsere Gesetze nicht etwa einer menschlichen Laune entspringen, sondern von einer absoluten Autorität angeordnet wurden. Auf dieser Grundlage lassen sich einige Prinzipien formulieren, die nicht in Zweifel gezogen werden können und der Gesellschaft ein stabiles Fundament geben.“ Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.
Eine Religion muss universell sein und sich missionarisch betätigen
Yuval Noah Harari definiert eine Religion als ein System von menschlichen Normen und Werten, die sich auf den Glauben an eine übermenschliche Ordnung stützen, wobei sich die Definition aus zwei Teilen zusammensetzt. Ersten glauben Religionen an Ordnung, die über den Menschen steht und nicht auf menschliche Vereinbarungen zurückgeht. Zweitens stellt die Religion auf der Basis dieser übermenschlichen Ordnung Normen und Werte auf, die ihrer Ansicht nach bindend sind. Yuval Noah Harari fügt hinzu: „Eine Religion kann also als Legitimation für eine gesellschaftliche und politische Ordnung dienen, aber nicht jede Religion hat diese Möglichkeit genutzt.“
Um eine große Region mit sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen einen zu können, muss eine Religion laut Yuval Noah Harari über zwei Eigenschaften verfügen: Erstens muss sie den Anspruch erheben, eine für alle Menschen verbindliche Ordnung zu sein, die immer und überall der Wahrheit entspricht, und zweitens muss sie darauf besehen, diesen Glauben an alle Menschen weiterzugeben. Das heißt nichts anderes, dass sie universell sein und sich missionarisch betätigen muss. Die großen Weltreligionen der Geschichte, wie zum Beispiel das Christentum, der Islam und der Buddhismus sind missionierende Universalreligionen.
Die Jäger und Sammler der Steinzeit waren Animisten
Aber längst nicht alle Religionen verfügen über diese Eigenschaften. In der Vergangenheit waren die allermeisten Religionen auf überschaubare Regionen und Gruppen beschränkt. Nach dem heutigen Wissensstand kamen die missionierenden Universalreligionen erst im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung auf. Yuval Noah Harari ergänzt: „Ihre Entstehung war eine der bedeutendsten Revolutionen der Geschichte und leistete einen entscheidenden Beitrag zur Vereinigung der Menschheit, genau wie die Imperien und das Geld.“
Die Jäger und Sammler der Steinzeit waren sogenannte Animisten. Sie glaubten, dass es auf der Welt nicht nur Menschen gibt, sondern auch zahlreiche andere Lebewesen, von denen jedes seine eigenen Persönlichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche hatte. Daher mussten die menschlichen Werte und Normen auch die Interessen dieser anderen Wesen repräsentieren. Die Vorstellungen dieser Naturreligionen bezogen sich ausschließlich auf den Lebensraum einer Gruppe und die einmaligen Eigenschaften jedes Ortes, jeder Jahreszeit und jeder Naturerscheinung.
Von Hans Klumbies