Das Anderssein ist in der sozialen Wirklichkeit nicht erwünscht

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann stellt sich die Frage, wo die jungen, innovativen, aufbegehrenden, revolutionierenden Stimmen hingekommen sind, die heldenhaft ihr Ich gegen jede Vereinnahmung durch die Gesellschaft, die Medien und die Wirtschaft verteidigen. Der Soziologe Bernhard Heinzlmaier urteilt wie folgt über eine völlig angepasste Jugend: „Keine Mission, keine Vision, keine Revolution.“ Alles bewegt sich in der Mitte der Gesellschaft mit dem Mainstream. Wer woanders steht, weil er nicht mitkam oder nicht mitmachen will, gilt als verloren. Diese Verlorenen wieder mitzunehmen, in die Mitte zu führen und diese zu integrieren, ist dann auch das Einzige, was engagierte Pädagogen und Sozialarbeiter noch denken und wünschen können. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Viele Menschen schätzen durchaus das Individuelle und Besondere

Kaum einer kommt heute noch auf die Idee, wie in den vergangenen Jahrhunderten, dass aus der Position des Ausgeschlossenen und Außenseiters wichtige Impulse für eine Veränderung des Ganzen ausgehen könnten. Konrad Paul Liessmann nennt einen Grund, warum das so ist: „Die Menschen, so lautet ein alltagspsychologischer Befund, schwimmen eben gerne im Strom der Masse, und wirklich Anderssein ist – aller Rhetorik vom Anderen zum Trotz – in der sozialen Wirklichkeit nicht sonderlich erwünscht.“

Die sogenannte Mitte in Politik und in der Kultur wird immer breiter, die Massenmedien bestimmen den Geschmack der Masse, das Verhalten der meisten Menschen scheint immer in die gleiche Richtung zu gehen. Wenn ein Mode in ist, folgen fast alle ihr. Wenn es einen Trend in der Kultur des Alltags gibt, gehorcht ihm beinahe jeder. Doch dieser Befund, so einleuchtend er auch sein mag, widerspricht laut Konrad Paul Liessmann, und dies ist paradox, dem Selbstverständnis vieler Menschen und dem gesellschaftlichen Konsens: denn diese setzen durchaus auf das Individuelle und Besondere.

Die moderne Gesellschaft ist von zwei gegensätzlichen Entwicklungen geprägt

Konrad Paul Liessmann vertritt die These, dass die moderne Gesellschaft grundlegend von zwei gegensätzlichen Entwicklungen gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite durch eine rasante Zunahme der Bevölkerungen, die zum ersten Mal bei Zeitgenossen den Eindruck hinterließ, dass der moderne Mensch ein Massenmensch sei. Massen treten als solche in Erscheinung, weil sie eine uniforme Dynamik entwickeln, die wie ein unbändiger Fluss alles mit sich zu reißen vermag. Voraussetzung dafür ist die Industrialisierung und die damit verbunden Begleiterscheinungen der Automatisierung, Standardisierung und Normierung.

Die andere Entwicklung in der modernen Gesellschaft ist die gegenläufige Individualisierung. Für den modernen Menschen gibt es keine vorgegebenen Lebenskonzepte mehr. Er glaubt, allein über seinen Lebensweg, seine Vorlieben, sexuelle Orientierung, sein Konzept von Familie, seinen Beruf, seinen Glauben, seine politische Position entscheiden und diese Entscheidungen auch immer wieder umstoßen zu können. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Er muss sein Leben nicht nur leben, er muss es nicht nur führen, er muss es überhaupt erst entwerfen.“

Von Hans Klumbies