Tony Judt moniert die Verwahrlosung der Öffentlichkeit

In den letzten dreißig Jahren hat der private Reichtum laut Tony Judt in den Industrienationen deutlich zugenommen. In Amerika, Großbritannien und einigen anderen Ländern haben Finanzgeschäfte die Industrie oder den Dienstleistungssektor als Quelle von Privatvermögen verdrängt und zu einer verzerrten Wertschätzung ökonomischen Handels geführt. Reiche hat es seiner Meinung nach schon immer gegeben, aber heute ist ihr Vermögen größer als zu irgendeiner anderen Zeit. Es fällt Tony Judt leicht, diese privaten Privilegien zu verstehen und zu beschreiben. Schwerer ist es für ihn, die öffentliche Verwahrlosung zu beschreiben, in die viele Staaten versunken sind. Er zitiert Adam Smith, der gesagt hat: „Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend sind.“

Die Symptome der kollektiven Verarmung

Tony Judt erkennt überall die Symptome der kollektiven Verarmung. Er schreibt: „Schadhafte Straßen, zahlungsunfähige Kommunen, einstürzende Brücken, vernachlässigte Schulen, Arbeitslose, Wohnungslose, Unversicherte – das alles ist Ausdruck gesellschaftlichen Versagens.“ Diese Missstände sind seiner Meinung nach inzwischen so stark verbreitet, dass sie kaum noch thematisiert oder gar behoben werden. Die größten Extreme zwischen privaten Privilegien und staatlichen Desinteresse beobachtet Tony Judt in Amerika und England, den Propagandisten einer neoliberalen Marktwirtschaft.

Laut Tony Judt können Kinder im heutigen Großbritannien oder in den USA im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern kaum noch damit rechnen, aus den Verhältnissen herauszukommen, in die sie hineingeboren wurden. Tony Judt schreibt: „Arme bleiben arm. Materielle Benachteiligung für die überwältigende Mehrheit bedeutet: schlechtere Gesundheit, geringere Bildungschancen und die üblichen Krisensymptome – Alkoholismus, Übergewicht, Glücksspiel, Kleinkriminalität.“

Ungleichheit zersetzt die Gesellschaft von innen heraus

Je größer die Kluft zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen in einem Land sind, desto größer sind gemäß Tony Judt dort die sozialen Probleme. Das gilt für arme und reiche Länder gleichermaßen. Entscheidend ist nicht wie reich eine Nation ist, sonder wie das Einkommen verteilt ist. Tony Judt erklärt: „Ungleichheit wirkt zersetzend. Sie zersetzt eine Gesellschaft von innen heraus. Die Auswirkungen materieller Ungleichheit zeigen sich erst nach einiger Zeit: der Konkurrenzkampf verschärft sich, die Menschen fühlen sich überlegen oder minderwertig, die Vorurteile gegenüber Schwächeren verstärken sich, die Pathologien sozialer Benachteiligung werden immer deutlicher.“

Es ist für Tony Judt ein gewaltiger Unterschied, ob jemand Ungleichheit und ihre Probleme am eigenen Leib verspürt oder über Reichtum in Jubel ausbricht. Überall auf der Welt besteht seiner Meinung nach die Neigung, Reichtum zu bewundern, den Lebensstil der Reichen und Schönen zu verherrlichen. Das war schon in früheren Zeiten so, wie ein Zitat von Adam Smith belegt: „Dieser Hang, die Reichen und Mächtigen zu bewundern, ja fast anzubeten, und Personen in ärmlichen und einfachen Verhältnissen zu verachten oder wenigstens zu ignorieren, ist […] die größte und allgemeinste Ursache der Degeneration unserer ethischen Gefühle.“

Von Hans Klumbies