Fortschritt entlastet das Leben

Fortschritt ist eine starke Metapher der Bewegung – und diese hat einen realen Kern. Seit rund 300 Jahren lebt die Menschheit in einem Kontinuum der Forschung und Wissenschaft, das kumulativ wirkt. Peter Sloterdijk ergänzt: „Aus diesem Lernzusammenhang können und wollen wir nicht austreten.“ In der wissenschaftlichen Modernität und ihrer Ergänzung durch Technik spielt sich ein riesiges Experiment ab, das der Entlastung des Lebens gilt. Der technische Fortschritt setzt sich immer dann durch, wenn die Menschen mehr Machtmittel in die Hände bekommen, die ihren Aktionsradius erweitern und ihr Dasein erleichtern. Peter Sloterdijk erläutert: „Fortschritt in einem nicht naiven Sinn bedeutet Ermächtigung und Entlastung.“ Auf dem Gebiet der Moral brauchen seiner Meinung nach allerdings keine Fortschritte gemacht werden. Peter Sloterdijk gilt als einer der wirkungsmächtigsten und zugleich heftig umstrittenen Denker Deutschlands.

Angst kennzeichnet die heiße Phase der Globalisierung

Was die Moral verlangt, ist seit 2500 Jahren klar: Gerechtigkeit für Jedermann und Achtung vor dem Gebot, niemanden Schaden zuzufügen. Die ethischen Aussagen von Konfuzius, Aristoteles und Moses bilden einen Horizont, den man vielleicht dehnen, aber nicht überschreiten darf. Peter Sloterdijk stellt fest: „Es wäre hingegen naiv, an die moralische Perfektionierung des Menschen zu glauben. Eher müsste man andersherum fragen: Wie kommt es, dass keine Infamie lange warten muss, bis sich jemand findet, der sie begeht?“

Auf die Frage, ob die Menschen in einem Zeitalter der Angst leben, antwortet Peter Sloterdijk: „Die aktuelle Angst kennzeichnet die heiße Phase der Globalisierung. In einer Synchronwelt zu leben ist ein enormer Angriff auf die mentalen Strukturen der Menschen.“ Die Menschen sind nicht darauf vorbereitet, mit Milliarden Zeitgenossen in voller Kenntnis ihrer Gegenwart zu koexistieren. Früher wurden die Diskretionsabstände zwischen den Nationen und Kulturen durch die Geografie hergestellt.

Die Philosophie begann als die Kunst der Asozialität

Damals sorgten schwer zu überwindende Entfernungen für Diskretion, mental und politisch. Doch die Globalisierung bringt den Triumph der Indiskretion mit sich. Oder, um anthropologisch zu reden: Wie will man aus einem Hordenwesen, das von Natur aus ein Geschöpf der Kleingruppe war, einen Weltbürger machen? Es war schon schwer genug, einen Nationalmenschen aus ihm zu formen. Und die Umformatierung der Nationalmenschen zu Europäern wird Europa noch den Rest des 21. Jahrhunderts beschäftigen.

Der Begriff Kosmopolit entstand bereits im antiken Griechenland, 400 Jahre vor Christus. Er war zunächst, bei den Kynikern als Scherz gemeint. Der Bürger des Kosmos ist kein wirklicher Städter mehr. Er ist ein Pendler zwischen Tonne und Weltall. Diogenes von Sinope, der philosophische Provokateur, war der Erste, der sich als Kosmopolit bezeichnete. Er war eigentlich so etwas wie ein ambitionierter Asozialer. Peter Sloterdijk behauptet: „Die Philosophie selbst begann als die hohe Kunst der Asozialität.“ Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies

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