Mythen vermitteln tiefe Einblicke in die menschliche Seele

Die neue Sonderausgabe 02/2014 des Philosophie Magazins trägt den Titel „Die griechischen Mythen. Was sie über uns verraten“. Chefredakteur Thomas Lehmkuhl erklärt im Editorial den Unterschied zwischen Literatur und Mythen: „Mythen freilich sind etwas anderes als Literatur, denn Literatur ist im Wesentlichen durch ihre sprachliche Gestalt bestimmt, wohingegen Mythen so oder so erzählt werden können und sich über die Jahrhunderte auch immer wieder verändert haben.“ Das abendländische Denken stützt sich auf die beiden Säulen Mythos und Logos. Die Mythen handeln von Helden, Göttern und Halbgöttern, von Wesen, an die die Menschen einst glaubten. Der Ägyptologe und Kulturtheoretiker Jan Assmann glaubt, dass es in Einzelfällen schon möglich sein könnte, dass Mythen einen wahren Kern enthalten. Die Wahrheit der Mythen ereignet sich seiner Meinung nach allerdings im Erzählen, in der rituellen Aufführung und im Akt der Identifikation.

Mythen bilden die interessantesten Variationen von Geschlechterrollen

Laut Sigmund Freud durchleben alle Menschen die Geschichte des Ödipus. Nur gelingt es den meisten, die Eifersucht auf den Vater zu überwinden und die Lust von der Mutter abzulösen. Für den französischen Psychiater und Psychoanalytiker Jacques Lacan verkörpert Antigone, die Tochter des Ödipus und der Iokaste das Todesbegehren. Für Barbara Vinken dagegen, die Literaturwissenschaft an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität lehrt, gibt Antigone ein Beispiel für eine sittliche Gesellschaft – und für eine gleichberechtigte Rolle der Frau, die Rolle der Schwester.

Barbara Vinken hegt den Verdacht, dass sich die Menschen deshalb so für die Mythen interessieren, weil sie die interessantesten Variationen von Geschlechterrollen bieten. Es gibt dort sehr bizarre Paarungen. Barbara Vinken fügt hinzu: „Für die moderne Rolle der Gattin und Mutter ist da in der Tat nicht viel zu holen, eigentlich gar nichts.“ Im Kapitel „Mythen der Technik“ weist der Philosoph Hans Jonas darauf hin, dass die Technik im Leben der Menschen eine immer größere Rolle spielt. Der technische Fortschritt hat nie gekannte Kräfte entwickelt, die nach einer Ethik verlangen, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden.

Narziss ist das Urbild der Verführung

Auch die Mythen des Begehrens wie Narziss, Pandora oder Tantalos kommen im Sonderheft des Philosophie Magazins über die Griechischen Mythen nicht zu kurz. Für Silvia Milanezi, Professorin für alte Geschichte an der Universität Est Créteil-CRHEC, zieht mit der Pandora zwar das Chaos in die Welt ein, aber mit ihr beginnen auch Zeit, Kultur und Geschichte. Aus der Büchse der Pandora entweicht zudem die Hoffnung, die dem Tantalos so große Qualen bereitet. Dagegen ist Narziss für Jean Baudrillard, einem großen französischen Denker des Poststrukturalismus, das Urbild der Verführung. Der Spiegel bildet dabei den Abgrund, in den der Verführte stürzt.

„Die Mythen der Philosophie“ bilden das Schlusskapitel des Sonderhefts. Seine Hauptdarsteller sind Sisyphos, Ariadne, Minotauros und Herakles. Friedrich Nietzsche schreibt in der „Wille zur Macht“, dass jeder, der heute noch Philosophie betreiben wolle, es wagen müsse, sich in das Labyrinth des Minotauros zu begeben. Für den französischen Philosophen Gilles Deleuze verkörpert Ariadne das bejahende, aktive Prinzip. Deshalb ist sie sowohl für die Menschen als auch für die Götter so begehrenswert. Das Sonderheft „Die griechischen Mythen“ vermittelt seinen Lesern einen hervorragenden Einstieg in diese tief in der Vergangenheit liegende Welt.

Von Hans Klumbies