Die europäische Revolution ist einzigartig in der Geschichte

Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass sich Europa in einem epochalen Umwälzungsprozess befindet. Es ist einzigartig in der Geschichte, dass sich souveräne Länder zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, obwohl die meisten von ihnen über eine traditionsreiche eigene Staatlichkeit verfügen. Damit heben sie das Prinzip des Nationalstaats auf, das die Moderne beherrscht. Alle anderen politischen Revolutionen, die in der Nachkriegszeit stattgefunden haben wie beispielsweise der arabische Frühling, die orangene, die antisowjetische und antikoloniale Revolution sind dagegen Akte der Befreiung von Fremd- oder Gewaltherrschaft. Auf die europäische Revolution trifft dies nicht zu. Ihre Mitgliedsstaaten befreien sich von keiner fremden Herrschaft, sondern errichten gemeinsam eine neue. Allerdings geht es auch in diesem Fall um das Prinzip Freiheit. Doch jetzt erweitert sich ihr traditioneller nationaler Sinn um eine gemeinsam definierte transnationale Dimension.

Die meisten Gegenrevolutionen verfolgen konservative Ziele

Die Doppelgestalt des neuen europäischen Freiheitsbegriffs soll sowohl nach innen als auch nach außen neue Gestaltungsmöglichkeiten der Politik ermöglichen. Der Triumph der national gesinnten Europagegner bei der Europawahl 2014 war keine Revolution, sondern eine Gegenrevolution. So wie die meisten Konterrevolutionen konservative Ziele verfolgen, gilt das auch für die englische Partei Ukip oder die französische Partei Front National. Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen und die Autonomie Großbritanniens beziehungsweise Frankreichs wiederherstellen.

Diese Versuche sind hoffnungslos anachronistisch und irreal. In einer globalisierten Welt ist es nicht mehr möglich, auch nur die wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erhalten. Ebenso unmöglich ist es, eine ethnische Homogenität zu erzwingen. Dennoch haben sowohl die Ukip als auch die Front National in ihren Heimatländern eine machtvolle demokratische Basis. Darum legen die Gegner Europas mit ihrem Protest zugleich die Schwäche der Demokratie in der Europäischen Union auf, wenn auch auf bezeichnend falsche Weise.

Die Europäische Union ist ein Projekt der Eliten

Das große Problem der Europäischen Union ist, das sie kein revolutionäres Projekt ihrer Bürger ist, sondern ihrer politischen und wirtschaftlichen Eliten und Bürokratien. Die Differenz zwischen Eliten und Bürgern ist allerdings nicht die einzige Schwäche. Vielmehr steht und fällt die Demokratie in Europa mit der Frage, was in der Union unter dem Begriff Bürger eigentlich zu verstehen ist. Denn so europäisch die Eliten waren und sind, so zersplittert in nationale Segmente ist die europäische Bürgerschaft. De facto ist Europa eine politische Union ohne Bürger.

Immer stimmten über die zentralen Vertragsakte der Europäischen Union entweder die Parlamente der Nationen als Repräsentanten ihrer nationalen Bürger ab. Nur in Ausnahmefällen durften das die Bürger selbst wie in den Referenden 2005 in Frankreich und den Niederlanden zur einst geplanten Verfassung der Europäischen Union. Auch die Wahl zum Parlament der Europäischen Union setzt sich aus nationalen und Wahlakten und Listen zusammen. Nie wurden die Bürger der Union grenzüberschreitend als europäische Bürger kollektiv und konstitutiv beteiligt. Quelle: Süddeutsche Zeitung

Von Hans Klumbies