Walter Benjamin hinterfragt das Wesen der sittlichen Bildung

Walter Benjamin untersucht in einer kleinen theoretischen Abhandlung aus dem Jahr 1913, wie sich der Moralunterricht zu absoluten pädagogischen Forderungen verhält. Dabei stellt er sich auf den Boden der Ethik von Immanuel Kant, der zwischen Legalität und Moralität unterscheidet. Bei Immanuel Kant heißt es: „Bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, dass es dem sittlichen Gesetz gemäß sei, sondern es muss auch um desselben Willen geschehen.“ Damit ist für Walter Benjamin zugleich eine weitere Bestimmung des sittlichen Willens gegeben: er ist frei von Motiven, ausschließlich bestimmt durch das Sittengesetz, die Norm, die da heißt: handle gut. Der deutsche Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer Walter Benjamin wurde am 15. Juli 1892 in Berlin geboren. Am 26. September 1940 nahm er sich auf der Flucht vor der Gestapo an der spanischen Grenze das Leben.

Die Freie Schulgemeinde scheint für die sittliche Erziehung am besten geeignet zu sein 

Für Walter Benjamin ist das Ziel einer sittlichen Erziehung die Bildung des sittlichen Willens. Beim Entwurf der Möglichkeit einer sittlichen Erziehung als eines Ganzen scheint ihm das Prinzip der Freien Schulgemeinde, der sittlichen Gemeinschaft, angemessen. Walter Benjamin schreibt: „Die Form, in der in ihr die sittliche Erziehung vor sich geht, ist Religiosität. Denn diese Gemeinschaft erlebt immer aufs neue einen Prozess in sich, der Religion erzeugt und religiöse Betrachtung weckt, den Prozess, den wir „Gestaltgewinnung des Sittlichen“ nennen möchten.“

Walter Benjamin behauptet, dass das Sittengesetz jedem Empirischem beziehungslos fern steht. Und doch erlebt es die sittliche Gemeinschaft seiner Meinung nach immer wieder, wie die Norm sich in eine empirische legale Ordnung umsetzt. Die Bedingung eines solchen Lebens ist die Freiheit, die dem Legalen seine Einstellung auf die Norm ermöglicht. Walter Benjamin fügt hinzu: „Das Ineinander von sittlichem Ernst im Bewusstsein gemeinschaftlicher Verpflichtung und von Bestätigung der Sittlichkeit in der Ordnung der Gemeinschaft, scheint das Wesen der sittlichen Gemeinschaftsbildung zu sein.“

Die tiefste Gefahr des Moralunterrichts liegt in der Unterdrückung der Freiheit

Walter Benjamin durchschaut durchaus die Problematik einer sittlichen Erziehung. Rein dogmatisch gesagt liegt für ihn die tiefste Gefahr des Moralunterrichts in der Motivation und Legalisierung des reinen Willens, das heißt in der Unterdrückung der Freiheit. Wenn der Moralunterricht wirklich die sittliche Bildung des Schülers sich zum Ziel setzt, steht er laut Walter Benjamin vor einer unerfüllbaren Aufgabe. Wollte er beim dem Allgemeingültigen bleiben, so käme er seiner Meinung nach nicht über gewisse Lehren Immanuel Kants hinaus.

Der Moralunterricht bekämpft das Peripherische, Überzeugungslose unseres Wissens, die intellektuelle Isoliertheit der Schulbildung, erklärt Walter Benjamin. Er fordert, dem Bildungsstoff nicht von außen, mit der Tendenz des Moralunterrichts, Herr zu werden, sondern die Geschichte des Bildungsmaterials, des objektiven Geistes selbst zu erfassen. Walter Benjamins Schlusssatz lautet: „In diesem Sinne muss man hoffen, dass der Moralunterricht den Übergang zu einem neuen Geschichtsunterricht darstelle, in dem dann auch die Gegenwart ihre kulturhistorische Einordnung findet.“

Von Hans Klumbies