Alexander Mitscherlich setzt sich für die Toleranz ein

Die Überwindung, die in jedem toleranten Akt steckt, wirft laut Alexander Mitscherlich als Belohnung ein Freiheitserlebnis ab. Es ist eine beglückende Erfahrung, frei vom Zwang der Unduldsamkeit, der Unerträglichkeit, der Feindseligkeit zu sein. Doch die Selbsterfahrungen dieser Qualität sind relativ selten. Toleranz hat immer etwas mit Gleichmut zu tun: Ertragen, Erdulden heißt, psychologisch ein Gleichgewicht gegen störende Einflüsse von außen aufrechterhalten zu können. Wer tolerant ist und dabei seine Identität nicht gefährden will, muss fähig sein, sich Versagungen auferlegen zu können.

Alexander Mitscherlichs Definition der Toleranz

Bei einer Überlastung und Überforderung bricht eine Brücke oder Verhaltensweise zusammen. Für Alexander Mitscherlich ist dann die Toleranzgrenze offensichtlich überschritten. Bei einer seelischen Überbeanspruchung tritt ein neues Verhalten an die Stelle des alten. Die Komplexität der Verhaltensweisen, mit denen die Toleranz verbunden ist, zeigt sich im historischen Maßstab auch an Formen von schrecklicher Toleranz beziehungsweise einer Duldsamkeit ohne kritische Einschränkungen.

Dabei ging es in vielen Fällen nicht nur um passive, sondern auch um aktive Toleranz, in der man Führern wie Adolf Hitler oder Josef Stalin in ihre paranoiden Systeme hinein folgte und die von ihnen angeordneten Verbrechen ausübte. Alexander Mitscherlich definiert Toleranz als das Ertragen des anderen in der Absicht, ihn besser zu verstehen.

Jede Generation muss die Toleranz neu lernen

Erst aus diesem besseren Verständnis heraus sollen die Interessenkonflikte und Rechte der Gegenspieler geordnet werden. In dieser Form kommt die Toleranz viel zu wenig zum Einsatz, da man in unserer Gesellschaft bis in die Gegenwart mehr Techniken des Durchsetzens mit intoleranten als mit toleranten Verhaltensweisen lernt. Wer sich für mehr Toleranz in der Gesellschaft einsetzt, muss sie jeder Generation wieder neu abringen.

Wenn man davon ausgeht, dass der größte Teil der Gefühle der Menschen unbewusster Art sind, so hat man in der Tat die Basis, von der aus eine gegenseitige Verständigung betrieben werden muss. Das heißt eine Verständigung, die von vornherein nicht nur auf Sieg oder Niederlage ausgerichtet ist, sondern zunächst auch die Stufen der Selbsterfahrung und Selbstkontrolle in sich birgt.

Die Toleranz lässt Gegensätze bestehen

Alexander Mitscherlich nennt als Ziel für tolerantes Verhalten die Entwicklung von Methoden der Koexistenz und der Ebenbürtigkeit. Alexander Mitscherlich stellt die These auf, dass Toleranz eine immer wieder in Vergessenheit geratene Entdeckung der Menschheit über sich selbst sei. Es handelt sich dabei um einen Spielraum ihrer Entscheidungsfähigkeit, über den sie keineswegs sicher und zu allen Zeiten verfügt. Indem der Mensch tolerant ist, nivelliert er nicht ein soziales Feld, wie dies bei allen Diktaturen der Fall ist, sondern lässt Gegensätze bestehen.

Von Hans Klumbies