Ulrich Schnabel will einen anderen Umgang mit der Zeit

Nach Ulrich Schnabel leben die Menschen der Gegenwart in einer Epoche der rasant zunehmenden Aufmerksamkeitsstörungen. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat herausgefunden, dass fast 70 Prozent der Bundesbürger die ständige Hektik und Unruhe als den größten Stressauslöser betrachten. Die Menschen fühlen sich ständig getrieben, nicht nur in Deutschland. In ganz Europa sind es etwa 50 Prozent, die darüber klagen, dass sie mindestens in der Hälfte ihrer Zeit sehr schnell arbeiten müssten. Und es sieht nicht so aus, als wäre Besserung in Sicht. Ulrich Schnabel schreibt: „Und bei jeder Studie klagen mehr Menschen über ein zu hohes Arbeitstempo und eng gesetzte Termine.“ Ulrich Schnabel studierte Physik und Publizistik und arbeitet als Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „DIE WELT“.

Die Zeitnot ist das größte Übel der Gegenwart

Ulrich Schnabel hält es für keine Übertreibung zu behaupten, dass für die Mehrheit das Leiden an der Zeitnot das größte Übel in der modernen Gesellschaft ist. Alle eint das üble Gefühl, ständig unter Druck zu stehen. Die Atempausen werden immer kürzer oder fallen ganz aus. Ulrich Schnabel schreibt: „Statt in unserer jeweiligen Handlung aufgehen und im besten Falle den Flow, den Rausch des konzentrierten Schaffens erleben zu können, fühlen wir uns zunehmend fahrig, fremdgesteuert und irgendwie nur halb anwesend.“

Was dabei verloren geht, ist laut Ulrich Schnabel nicht nur die Ruhe zum Nachdenken und die Fähigkeit zur Konzentration. Viel schlimmer ist der Verlust des Erlebens der Gegenwart und damit der Wertschätzung des eigenen Lebens. Die Menschen haben seiner Meinung nach weitgehend verlernt, sich der Muße hinzugeben, wie es in früheren Zeiten nicht unüblich war. Dieser Mangel durchzieht inzwischen alle Bereiche des menschlichen Lebens.

In den Beschleunigungsgesellschaften zählt nur noch die Leistung

Soziologen sprechen schon längst von Beschleunigungsgesellschaften, in der sich das Gefühl des Gehetztseins zu einem Dauerzustand entwickelt hat. Die Leistung thront über allem, das Nichtstun, der Müßiggang, der keinem Zweck dient, gilt als wertlos und Verschwendung von Lebenszeit. An der Unfähigkeit zur Muße leiden laut Ulrich Schnabel sonderbarerweise nicht nur erfolgreiche Manager, sondern Arbeitslose, die durch Zwang von außen entschleunigt wurden. Das Übermaß an freier Zeit erscheint ihnen als leer und unbrauchbar.

Ganz allmählich begreifen die Menschen, dass ihnen die Logik des immer schneller und immer mehr sehr schadet. Immer mehr erkranken an psychosomatischen Leiden angefangen beim Tinnitus über Ess- und Verdauungsstörungen bis hin zum Burn-out-Syndrom. So hat sich zum Beispiel wie die Krankenkasse DAK anhand einer Studie herausgefunden hat, der Anteil psychischer Erkrankungen an den Ursachen für Fehltage am Arbeitsplatz im vergangen Jahrzehnt fast verdoppelt.

Von Hans Klumbies