Ralf Dahrendorf zitiert den Philosophen Karl Popper, der einmal gesagt hat, dass die Geschichte keinen Sinn hat, aber der Mensch kann, ja muss ihr einen Sinn geben. Für ihn selbst ist ein geregelter Konflikt mit Freiheit gleichzusetzen, denn er bedeutet, dass niemand seine Ansichten zum Dogma erheben kann. Ralf Dahrendorf schreibt: „Es gibt Institutionen, die es erlauben, nein zu sagen, und mehr, die jeweils Regierenden abzulösen. Die Freiheit von Willkür und Tyrannis ist nicht gering zu schätzen.“ Für Max Weber war es der Begriff der Chance, der über die bloß formalen Bedingungen des Handels hinaus nötig ist, um die freie, die offene Gesellschaft zu begründen. Für ihn waren Chancen mehr als Voraussetzungen des Handelns und doch weniger als tatsächliche Handlungsweisen.
Die Politik der Freiheit tritt für mehr Lebenschancen ein
Für Ralf Dahrendorf geht es bei den Konflikten innerhalb der modernen Gesellschaft um nicht mehr und nicht weniger als um Lebenschancen. Er schreibt: „Mehr Lebenschancen für mehr Menschen sind die Absicht der Politik der Freiheit.“ Der Begriff der Lebenschancen ist für ihn so zentral für das Verständnis der Moderne wie auch für jede liberale Theorie. Sie sind eine Funktion von Optionen und Ligaturen. Ralf Dahrendorf erklärt: „Optionen sind in sozialen Strukturen gegebene Wahlmöglichkeiten, Alternativen des Handelns.“
Ralf Dahrendorf vertritt die Ansicht, dass eine Gesellschaft beides braucht, Anrechte und Angebote, wenn sie die menschliche Wohlfahrt voranbringen möchte. Die Menschen brauchen seiner Meinung nach einen freien Zugang zu Märkten, zu den politischen Entscheidungsprozessen und kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten, wobei diese Bereiche vielfältige Chancen der Auswahl anbieten müssen. Er erklärt: „Keine Gesellschaft, die nicht beides besitzt, kann ernstlich zivilisiert genannt werden.“
Die Bedeutung der kulturellen Bindungen
Lebenschancen sind laut Ralf Dahrendorf allerdings nur zu einem Teil Optionen – ihr anderer Teil hat es mit den Koordinaten zu tun, innerhalb derer die Optionen auch einen Sinn ergeben. Dies trifft vor allem auf die Moderne zu, die vor allem jungen Menschen immer mehr Wahlmöglichkeiten zu versprechen scheint, aber ihnen keine Entscheidungshilfe bei der Frage gibt, welche Bedeutung es für sie hätte, diese oder jene Option zu wählen. Jetzt kommen für Ralf Dahrendorf die Ligaturen ins Spiel, die er wie folgt definiert: „Ligaturen sind also tiefe kulturelle Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden.“
Für Alexis de Tocqueville und Karl Marx dagegen ist die Modernität ein Bruch mit den Ligaturen früherer Zeiten. Die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ist für sie zugleich ein Auszug aus der Nestwärme stabiler menschlicher Beziehungen in festen ständischen Strukturen. Am Ende dieser Welt ohne feste Ligaturen sind für Ralf Dahrendorf allerdings die falschen Götter nicht weit. Er verweist dabei auf den Massenselbstmord der 916 amerikanischen Anhänger des Pfarrers Jones in Guyana, der für ihn zum Symbol und Symptom einer Welt ohne Ligaturen geworden ist.
Von Hans Klumbies