Kulturelle Ressourcen kann man nicht besitzen

Es gibt keine französische oder europäische kulturelle Identität, dafür aber französische, europäische oder zu einer beliebigen anderen Kultur gehörende Ressourcen. François Jullien schreibt: „Identität wird definiert, Ressourcen werden inventarisiert. Man erkundet sie und beutet sie aus – das meine ich mit aktivieren.“ Was eine Ressource auszeichnet, ist schließlich gerade ihre Fähigkeit, etwas zu befördern. Eine weitere, eng mit dem Universellen korrelierende europäische Ressource scheint François Jullien die Förderung des Subjekts zu sein: weniger des Individuums – und damit des Individualismus mit seinem beschränkten Selbst – als vielmehr des Subjekts als eines „Ich“, das seine Stimme erhebt und, davon ausgehend, in der Welt die Initiative ergreift und somit ein Projekt anstößt, das angetan ist, die Begrenztheit dieser Welt aufzubrechen. François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

In einer Demokratie muss man die anderen mit dem Wort überzeugen

Es stellt sich somit „außerhalb“ dieser geschlossenen Welt und beginnt so im eigentlichen Sinne zu „existieren“. Der politische Aspekt dieser Ressource, die es ihrerseits immer wieder freizulegen gilt, ist die Freiheit des Subjekts. François Jullien erläutert: „Genau daraus bezieht die Demokratie – auch wenn sie stets Mühe hat, ihre Konstitution zu finden – ihre Berechtigung und Legitimität. Denn die Demokratie besteht nun zunächst einmal darin, die anderen als Subjekte zu behandeln oder, so könnte man sagen, eine Gemeinschaft von Subjekten zu befördern.“

Gerade deshalb macht es seit der griechischen Antike ihre wichtigste Triebfeder aus, in der Lage zu sein, den anderen durch das Wort zu überzeugen und ihn als ein gleichrangiges, mit Initiative und Freiheit ausgestattetes Subjekt zu adressieren, anstatt ihn unterwerfen zu wollen oder ihm gar Gewalt anzutun. Schließlich kann, wie schon Platon wusste, allein die Überzeugungskraft an die Stelle der nackten Gewalt treten. Das Wort „Ideal“ bezeichnet eine essenzielle Ressource, nämlich die Fähigkeit, ideelle (abstrakte) Vorstellungen hervorzubringen und sie zum Ideal zu erheben.

Das Subjekt soll nicht länger durch seine Kultur festgelegt sein

Die Ressource des Ideals war grundlegend für die Entfaltung Europas, da sie sich in eine Berufung verwandelte und so schließlich zur Idee der Revolution, in der Kunst wie in der Politik, führte. Dabei gilt: Letztendlich kann man kulturelle Ressourcen, insbesondere jene der Sprache, nur entlehnen und importieren – besitzen kann man sie nicht. Man sollte die Beziehung zwischen dem Subjekt und der Kultur daher in einer Weise neu denken, dass Ersteres nicht länger durch „seine“ Kultur festgelegt wird.

Der Idee der kulturellen Identität liegt versteckt, und unberechtigterweise, etwas zugrunde, das durch folgende Äquivozität gekennzeichnet ist: Die zu Unrecht vorausgesetzte kulturelle Identität wird häufig mit dem psychologischen Prinzip der Identifikation verwechselt. Im Hinblick auf das Singuläre und Subjektive ist die Verwendung des Begriffs Identität durchaus gerechtfertigt; missbräuchlich ist sie jedoch, wo es – wie im Fall der Kultur – um etwas Kollektives und Objektives geht. Quelle: „Es gibt keine kulturelle Identität“ von François Jullien

Von Hans Klumbies