Vor der Vergebung steht die Mäßigung des Zorns

Laut Charles Griswold ist Vergebung ein Prozess zwischen zwei Menschen, der eine Mäßigung des Zorns und das Aufgeben von Racheplänen umfasst. Aussicht auf Vergebung hat demnach nur, wer anerkennt, dass er der verantwortliche Täter war, sich von seinen Taten und von sich selbst als ihrem Urheber distanziert, dem oder der Verletzten gegenüber sein Bedauern ausdrückt, dass er ihr oder ihm diese Verletzung zugefügt hat und sich verpflichtet, jemand zu werden, der keine Verletzungen mehr zufügt, und diese Verpflichtung durch Taten und Worte unter Beweis stellt. Außerdem sollte er zeigen, dass er den durch die Verletzung zugefügten Schaden aus der Perspektive der verletzten Person versteht und glaubwürdig machen können, was ihn zudem Unrecht veranlasst hat, inwiefern sein Fehlerverhalten nicht alles über seine Person aussagt und was er unternimmt, um sich der Gewährung der Vergebung als würdig zu erweisen.

Bestimmte Normen werden vorbehaltlos akzeptiert

Friedrich Nietzsche hatte von der Moral und wie Martha Nussbaum glaubt, auch von der Vergebung, die Auffassung, dass es bestimmte Normen gibt, die vorbehaltlos akzeptiert und von zentraler Bedeutung für den alltäglichen Diskurs und das alltäglich Leben der Menschen sind. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Die Geschichte macht die Dinge fremd. Sie ruft in Erinnerung, dass sie anders sein könnten und tatsächlich einmal anders waren. Hier erinnern sie daran, dass das neuzeitlich geschätzte Konzept der Vergebung ursprünglich im Zusammenhang mit einer Reihe religiöser Gesinnungen und Praktiken entwickelt wurde und Jahrtausendelang darin eingebunden war; sie bezog ihren Sinn aus dieser Einbindung. Ein Phänomen, das man im Falle der Vergebung immer wieder beobachten wird, ist die Tendenz, mit diesem Wort alle möglichen Einstellungen zu bezeichnen, die geeignet scheinen, den Zorn zu bewältigen.

Die Vergebung ist mit der Anerkennung der menschlichen Verletzlichkeit verbunden

Das Christentum hat viele Strömungen. Die transaktionale Strömung war enorm einflussreich, insbesondere in der organisierten Kirche und durch sie. Die alternative Idee der bedingungslosen Vergebung ist nicht ohne eigene moralische Risiken und Unzulänglichkeiten. Es gibt allerdings, zumindest in manchen Teilen der Evangelien und bei manchen späteren jüdisch-christlichen Denkern, einen weiteren Gegenstrang. Dieser wird häufig als „Ethik bedingungsloser Vergebung“ bezeichnet. Martha Nussbaums Auffassung nach sollte dieser Strang gar nicht als Vergebung, sondern am besten als eine „Ethik bedingungsloser Liebe“ bezeichnet werden.

Diese ist insgesamt anders und weicht von Urteil, Bekenntnis, Reue und folglich auch vom Verzicht auf Zorn ab. Der Vergebung wird häufig als Verdienst angerechnet, das sie mit einer Anerkennung der menschlichen Verletzlichkeit verbunden ist. Charles Griswold stellt ihr „perfektionistische“ Philosophien gegenüber und behauptet, zum Vergeben gehöre es, sich mit den Schwächen und Fehlern, die das menschliche Leben umfasst, zu arrangieren und ihnen teilnehmendes Verständnis entgegenzubringen. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum