Das Unbewusste prägt den Lebensweg mehr als die Rationalität

An zwei fiktiven Charakteren, Harold und Erica, zeigt David Brooks in seinem Buch „Das soziale Tier“, was die Wissenschaft heute über die menschliche Natur weiß und wie sich das Menschenbild in den vergangenen drei Jahrzehnten grundlegend geändert hat. Anhand der neuesten Erkenntnisse der Psychologie, Neurowissenschaft, Verhaltensforschung und Biologie erklärt der Autor wie stark der Lebensweg eines Menschen von seinen Intuitionen, Gefühlen, Beziehungen, Veranlagung und Verlangen geprägt ist. Der Mensch ist in erster Linie nicht das Produkt seiner bewussten Denkprozesse, sondern vielmehr weitgehend von seinen unbewussten Gedanken gesteuert. Die unbewussten Teile bilden den Hauptteil der Psyche, hier finden die meisten Entscheidungen und eindrucksvollsten Denkvorgänge statt. Deshalb lautet die Hauptthese von David Brooks: der Mensch ist kein rationales Individuum, sondern ein soziales Tier.

Die mentalen Prozesse des Denkens sind dem Bewusstsein nicht zugänglich

David Brooks zitiert Timothy D. Wilson von der University of Virginia, der davon überzeugt ist, dass das menschliche Denken durch mentale Prozesse strukturiert wird, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, und dass dadurch die Urteile eines Menschen entscheidend beeinflusst werden. Diese Prozesse formen die Persönlichkeit und vermitteln den Menschen die Fähigkeiten, die sie brauchen, um sich zu entfalten und ein erfolgreiches Leben zu führen.

David Brooks zeigt in seinem Buch „Das soziale Tier“ wie das unbewusste System aussieht, wenn es reibungslos funktioniert, wenn die Gefühle der Zuneigung und Ablehnung, die den Menschen Tag für Tag durch den Alltag begleiten, angemessen kultiviert und andere Emotionen in geeigneter Weise ausgebildet wurden. David Brooks schreibt: „Anhand zahlloser konkreter Beispiele will ich veranschaulichen, wie das Bewusstsein und das Unbewusste in Wechselwirkung miteinander stehen, wie ein kluger General seine Kundschafter ausbildet und auf ihre Nachrichten hört.“

Das Leben ist eine niemals endende gegenseitige Durchdringung von Seelen

Das Unbewusste ist laut David Brooks impulsiv, emotional, empfindlich und kann manchmal auch unberechenbar sein. Es hat also seine Unzulänglichkeiten, die nach Kontrolle verlangen. Aber es kann auch im höchsten Grade brillant sein. Es kann Unmengen von Daten verarbeiten und gewagte Sprünge an Kreativität hervorzaubern. David Brooks ergänzt: „Vor allem aber ist es auch auf eine wunderbare Weise gesellig. Ihr Unbewusstes, dieses in Ihrem Innern sitzende extrovertierte Kraftzentrum, will, dass sie Anschluss suchen und Beziehungen anknüpfen.“

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio, auf den David Brooks in seinem Buch ebenfalls zu sprechen kommt, geht sogar soweit zu behaupten, dass ein Mangel an Emotionalität zu selbstzerstörerischen und gefährlichen Verhaltensweisen führt. Menschen ohne Emotionen leiden unter starken psychischen Defiziten. Im Extremfall werden sie zu grausamen und gewalttätigen Soziopathen, die unfähig sind, sich in den Schmerz anderer Menschen einzufühlen. Hieran erkennt man, wie wichtig Emotionen für das menschliche Zusammenleben sind. David Brooks hat einen sehr schönen Schlusssatz für sein Buch gefunden, der dies widerspiegelt: „Harold betrachtete das Leben als eine niemals endende gegenseitige Durchdringung von Seelen.“

Das soziale Tier
David Brooks
Verlag: DVA
Gebundene Ausgabe: 604 Seiten, Auflage: 2012
ISBN: 978-3-421-04531-7,  24,99 Euro
Von Hans Klumbies