Das wiederauferstandene Russland betrachtet sich in weitaus stärkerem Maße als die aufstrebende chinesische Supermacht als Rivalen der globalen liberalen Ordnung, doch obwohl es seine militärische Macht zurückgewonnen hat, ist es ideologisch bankrott. Yuval Noah Harari erläutert: „Wladimir Putin ist in Russland, aber auch bei verschiedenen rechten oder rechtspopulistischen Bewegungen vor allem in Europa ohne Zweifel populär doch er verfügt über keine Weltanschauung, die für arbeitslose Spanier, unzufriedene Brasilianer oder wohlmeinende Studenten in Cambridge irgendwie attraktiv sein könnten.“ Russland bietet zwar ein Gegenmodell zur freiheitlichen Demokratie, doch dieses Modell stellt keine kohärente politische Ideologie dar. Vielmehr handelt es sich um eine politische Praxis, bei der eine Reihe von Oligarchen einen Großteil des Reichtums und der Macht eines Landes monopolisieren. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.
Die Oligarchie hat in Russland die Kontrolle über die Medien
Zudem nutzen die Oligarchen ihre Macht über die Medien, um ihre Aktivitäten zu verheimlichen und ihre Herrschaft zu zementieren. Die Demokratie dagegen basiert auf Abraham Lincolns Grundsatz, der da lautet: „Es gelingt wohl, alle Menschen einige Zeit und einige Menschen allezeit, aber niemals alle Menschen alle Zeit zum Narren zu halten.“ Ist eine Regierung korrupt und es gelingt ihr nicht, das Leben der Menschen zu verbessern, werden irgendwann das genügend Bürger bemerken und die Regierung durch eine andere ersetzen.
Doch die staatliche Kontrolle über die Medien in Russland untergräbt Abraham Lincolns Logik, denn sie verhindert, dass die Bürger die Wahrheit erfahren. Durch ihr Monopol über die Medien kann die herrschende Oligarchie ihre Misserfolge immer wieder anderen in die Schuhe schieben und die Aufmerksamkeit auf äußere Bedrohungen lenken – seien sie realer oder lediglich imaginärer Natur. Lebt man in einer solchen Oligarchie, gibt es immer die eine oder andere Krise, die Vorrang vor so langweiligen Dingen wie Gesundheitsversorgung und Umweltverschmutzung hat.
Die korrupte russische Oligarchie erzeugt einen Strom an Krisen
Wenn eine Nation wie Russland scheinbar von einer Invasion von außen oder teuflischer Unterwanderung bedroht ist, wer hat dann schon Zeit, sich um überfüllte Krankenhäuser und vergiftete Flüsse Gedanken zu machen? Yuval Noah Harari stellt fest: „Indem sie einen unablässigen Strom an Krisen erzeugt, kann eine korrupte Oligarchie ihre Herrschaft unbegrenzt verlängern. Doch dieses oligarchische Modell mag zwar die Praxis überdauern, aber wirklich attraktiv ist es für niemanden.“
Anders als andere Ideologien, die ihre Vision stolz herausstellen, sind herrschende Oligarchien nicht stolz auf ihre Praktiken und nutzen deshalb gerne andere Ideologien als Deckmäntelchen. So gibt Russland vor, eine Demokratie zu sein, und seine Führung behauptet, den Werten des russischen Nationalismus und des orthodoxen Christentums und nicht denen der Oligarchie verpflichtet zu sein. Rechtsextremisten in Frankreich und Großbritannien mögen durchaus auf russische Unterstützung hoffen und ihre Bewunderung für Wladimir Putin zum Ausdruck bringen, aber selbst ihre Wähler würden nicht in einem Land leben wollen, das tatsächlich das russische Modell nachahmt. Quelle: „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Noah Harari
Von Hans Klumbies