Die Soziologin Arlie Hochschild hat den Begriff der „Gefühlsnorm“ geprägt. In jeder Kultur gibt es allgemein akzeptierte Vorstellungen vom „richtigen“ oder angemessenen Gefühlsverhalten, denen Menschen unbewusst zu entsprechen suchen. Arlie Hochschild schreibt: „Der Partybesucher bemüht sich nach Kräften um die dem Gastgeber geschuldete Fröhlichkeit, wie der Trauergast um angemessene Gefühle der Trauer beim Begräbnis. Jeder präsentiert seine Gefühle als situationsangemessenen Beitrag zum Gelingen des gemeinsamen Ziels.“ Dabei geht es laut Ulrich Schnabel nicht nur um passende Worte und einen passenden Gesichtsausdruck, sondern auch um möglichst authentisches Fühlen. Denn Menschen haben in der Regel ein sehr feines Gespür für die Echtheit von Gefühlen. Das angemessen Fühlen ist allerdings ungleich schwieriger als die Auswahl des richtigen Anzugs oder das Üben von Beileidsfloskeln. Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.
Gefühle bringen oft sogar verborgene Wahrheiten zum Ausdruck
Gefühle führen nun mal ein Eigenleben, sind widerborstig und entziehen sich dem bewussten Zugriff. Je mehr ein Mensch sie zu erzwingen sucht, desto unberechenbarer reagieren sie – wie störrische Kinder, die stets das Gegenteil dessen tun, was von ihnen erwartet wird. Ulrich Schnabel fügt hinzu: „Oft genug bringen sie sogar verborgene Wahrheiten zum Ausdruck, die wir gar zu gern unter dem Deckel gehalten hätten. Und so gibt es Leute, die seit Jahren nur deshalb vor einer Hochzeit zurückschrecken, weil sie insgeheim befürchten, dass ihre Gefühle nicht so mitspielen, wie es allseits erwartet wird.“
Zur unterschwelligen Wirkung dieser Gefühlsnormen gehört, dass sie kaum jemals offen ausgesprochen werden. Ulrich Schnabel nennt Beispiele: „Niemand wird einer Braut die Vorschrift machen, sie habe sich gefälligst zu freuen, genauso wenig wie man die Gäste einer Trauerfeier offiziell um Trauer bittet.“ Denn alle wissen: Das versteht sich doch von selbst. Dabei ist das „Selbstverständliche“ häufig gar nicht selbstverständlich, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Übereinkunft, die sich über Jahrhunderte in Form von Traditionen und Erwartungen verfestigt hat, die aber von Kultur durchaus variieren können.
Kulturelle Gewohnheiten gleichen einer „stummen Sprache“
Was die „richtigen“ und angemessenen Gefühle in einer bestimmten Situation sind, wird Menschen schon im Kindesalter auf vielfältige Weise vermittelt – durch Erziehung, das Vorbild der Eltern oder durch Märchen, Bücher und Filme –, sodass sie diese Normen allmählich für ganz natürlich halten und kaum je hinterfragen. Kulturelle Gewohnheiten gleichen daher einer „stummen Sprache“, die zwar nicht lautstark artikuliert, aber dennoch von allen verstanden und respektiert wird. Und genau das macht ihre Macht aus.
Tränen zum Beispiel gelten einer Norm zufolge als ehrlicher Ausdruck von Trauer und Verzweiflung. In bestimmten Situationen nicht zu weinen, erscheint hingegen leicht als Ausweis mangelnder Betroffenheit, was die Umgebung meist mit subtilen, aber unmissverständlichen Hinweisen kommentiert. Doch gerade in Situationen, in denen alle Welt eine „passende“ Trauerreaktion erwartet, bleibt diese oft auf. Manchmal will sich der Schmerz einfach nicht an gewohnte Vorstellungen und Erwartungen halten. Quelle: „Was kostet ein Lächeln“ von Ulrich Schnabel
Von Hans Klumbies