Die Möglichkeiten, die eigene Meinung frei zu äußern, waren wohl noch nie so groß wie heute. Und nie gab es eine Zeit, in der sich die Übel der schranken- und hemmungslosen Rede so leicht über die Welt verbreiten konnten. Die Hälfte der Menschheit kann über Internet oder mit dem Smartphone miteinander kommunizieren. Fast jeder kann heute Verleger, Journalist oder Autor sein. Die Diskussion in Deutschland konzentriert sich für den Geschmack von Timothy Garton Ash zu sehr auf die Gefahren. Dennoch lässt sich die Zunahme der Verrohung der öffentlichen Rede nicht abstreiten. Auch Timothy Garton Ash übt harsche Kritik am Internet: „Das Internet ist die größte Kloake der Weltgeschichte. Ungeheuer viel Scheiße fließt um die Welt.“ Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.
Bei gefährlichen Äußerungen müssen Polizei und Justiz eingreifen
Timothy Garton Ash fährt fort: „Zum Teil handelt es sich um Hetze, zum größeren Teil sind es jedoch einfach Dummheiten, verbreitet im Schutz der Anonymität.“ Timothy Garton Ash bekommt Beschimpfungen nach jeder Kolumne, die er im „Guardian“ veröffentlicht. Meistens reagiert er allerdings gar nicht darauf. Denn er vertritt die Meinung, dass man solche Ausbrüche ignorieren sollte. Zudem kann man sich ein dickes Fell zulegen. Schwieriger wird es, bei einem anderen Gefahrenkomplex wegzusehen: der Verletzung der Privatsphäre.
Das Internet macht es viel leichter, etwas publik zu machen, und viel schwerer, etwas privat zu halten. Die Möglichkeiten zur Datensammlung der privaten Supermächte wie Google oder Facebook übertreffen bei Weitem die Träume eines Stasigenerals. Allein mit dem Mut zum moralischen Widerspruch, wie ihn Carolin Emcke, diesjährige Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, fordert, lässt sich der Hass in der Gesellschaft wohl kaum wirkungsvoll bekämpfen. Die These von Timothy Garton Ash lautet: „Polizei und Justiz müssen tätig werden, aber auch nur dann, wenn es wirklich um gefährliche Äußerungen geht.“
Gefährliche Äußerungen führen unmittelbar und höchstwahrscheinlich zu Gewalttätigkeit
Das ist eine viel engere und bestimmendere Kategorie als die der Hassrede, die ziemlich verschwommen ist. Timothy Garton Ash ist Liberaler im klassischen Sinn, dem Prinzip verpflichtet, so viel wie möglich in der Zivilgesellschaft zu entscheiden und wenig wie möglich dem Staat zu überlassen. Dazu kommt ein ganz praktischer Grund: Der Staat, zumal eine nationale Regierung, aber selbst die Europäische Union, ist überhaupt nicht imstande, den Ozean von Äußerungen verschiedenster Art zu überwachen, noch weniger, die Flut zu kontrollieren.
Die Staaten haben Mühe genug, wirklich gefährlichen Äußerungen mit den Mitteln der Justiz nachzugehen. Timothy Garton Ash erläutert: „Eine Äußerung ist gefährlich, wenn sie unmittelbar und höchstwahrscheinlich zu Gewalttätigkeit führt oder auch einen schwerwiegenden psychologischen Schaden anrichtet.“ Der Übergang von einer Hassrede zu einer gefährlichen Rede bleibt allerdings fließend. Die kausale Verbindung zwischen hasserfüllten Meinungsbekundungen und gewalttätigen Übergriffen ist nicht immer eindeutig. Quelle: Der Spiegel
Von Hans Klumbies