Die „Lucinde“ löste einen regelrechten Literaturskandal aus

Von zentraler Bedeutung in der Literatur der Romantik waren die literaturtheoretischen und literaturkritischen Arbeiten von Friedrich Schlegel. In seinen „Fragmenten und Ideen“ formulierte er in pointierter Form die romantische Kunst- und Lebensanschauung. Berühmt wurde er vor allem durch sein Romanfragment „Lucinde“ (1799). Dieser Text, der Friedrich Schlegel den Vorwurf der Obszönität einbrachte, gegen den ihn Friedrich Schleiermacher in seinen „Vertrauten Briefen über Lucinde“ (1800) vergeblich zu verteidigen suchte, löste einen regelrechten Literaturskandal aus, durch den die romantische Bewegung als Ganzes in die Schusslinie geriet. So war für Friedrich Schiller die „Lucinde“ ein „Gipfel moderner Unform und Unnatur“. Er sah in dem Roman all die Tendenzen ausgeprägt, gegen die Johann Wolfgang von Goethe und er selbst sich verwahrten. Tatsächlich war die „Lucinde“ ein Versuch Friedrich Schlegels, seine ästhetische Theorie in einem Text zu verwirklichen.

Friedrich Schlegel reflektierte über die Körperlichkeit der Liebe

Im Mittelpunkt des Romans steht der Entwicklungsgang des Helden Julius. In Briefen an die Geliebte Lucinde und den Freund Antonio, in Gesprächen, Aufzeichnungen und Reflexionen werden von Friedrich Schlegel die „Lehrjahre der Männlichkeit“ entwickelt, die sich als eine Abfolge von Liebeserlebnissen des Helden mit unterschiedlichen Frauentypen darstellen. In diesem Strukturprinzip hat die „Lucinde“ übrigens große Ähnlichkeit mit dem „Wilhelm Meister“, gegen den Friedrich Schlegel so vehement polemisierte.

Anders als Johann Wolfgang von Goethe reflektierte Friedrich Schlegel aber sehr direkt über die Körperlichkeit der Liebe. Damit durchbrach er ein herrschendes Tabu und handelte sich von prüden Literaturkritikern den Vorwurf der Unsittlichkeit ein; bei anderen, freizügiger gesonnenen Kritikern stand er im Ruf, ein Manifest der befreiten Liebe und des nichtentfremdeten Lebens geschrieben zu haben. Die Vorstellungen von Rollentausch und Androgynität und das Postulat freier Liebe sind jedoch nicht so emanzipatorisch, wie Friedrich Schlegel und seine Befürworter zu suggerieren versuchten.

Lucinde ist sinnliche Geliebte und geistige Partnerin zugleich

Denn diese Forderungen und Vorstellungen sind gebunden an ein Frauenbild, das von dem Ideal der Progression weitgehend ausgeschlossen bleibt. Das Weibliche wird nicht befreit, sondern ähnlich wie in klassischen Texten mythologisiert und ästhetisch funktionalisiert. Friedrich Schlegel kritisiert das gespaltene Frauenbild der klassischen Autoren, seine „Lucinde“ ist sinnliche Geliebte und geistige Partnerin zugleich, sie ist die Summe all der Eigenschaften, die der Held Julius sonst – auf verschiedene Frauen verteilt – kennen gelernt hat.

Lucinde ist eins und unteilbar – aber letztlich doch nur eine andere Form männlicher Projektionsarbeit. Als naturhaftes Wesen ist sie vollkommen wie eine Pflanze und dem zerrissenen und entfremdeten Mann durch ihre Ganzheitlichkeit überlegen. Zugleich ist sie damit aber als ein statisches Wesen festgeschrieben und von der unendlichen Progression ausgeschlossen. Weibliches Wachstum und männliche Entwicklung bilden die polare Struktur des Romans, der damit die klassische Polarisierung der Geschlechter auf einer anderen Ebene wieder aufnimmt. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies

Schreibe einen Kommentar