Wahrheit und Glück erscheinen Rudolf Eucken unter menschlichen Verhältnissen oft als unversöhnliche Gegner. In der Sehnsucht nach Wahrheit empfindet der Mensch sein unmittelbares Dasein als zu klein und zu eng. Er möchte solcher Einengung entfliehen und ein Leben mit der ganzen Weite der Unendlichkeit führen. Hier scheint für ihn die größte aller Befreiungen zu wirken. Rudolf Eucken ergänzt: „Die Befreiung von allen Niederungen der Selbstsucht und von der Zufälligkeit einer besonderen Art; ein reineres, edleres, unendliches Leben steigt damit auf, ein Leben, das selbst ein so maßvoller Denker wie Aristoteles für mehr göttlich als menschlich erklären konnte.“ Von so hohem Streben ergriffen, scheint der Mensch laut Rudolf Eucken sein eigenes Befinden gänzlich zurückzustellen, ja es willig aufopfern zu müssen, wenn es der Dienst der Wahrheit verlangt.
In der Philosophie steht die Wahrheit vor dem Glück an erster Stelle
Völlig anders sieht es beim Verlangen nach Glück aus. Hier wird alles, was eine Person angeht und betrifft, was sie bewegt und zum Handeln anspornt, auf ein Zentrum bezogen, in dem sich das eigene Dasein auf ein Ganzes zusammenfasst. Rudolf Eucken erklärt: „Danach wird alles Erlebnis gemessen und bewertet, von da aus strömt Liebe und Hass, strömt Glut und Leidenschaft in alle Unendlichkeit ein; was hierfür nichts leisten kann, das gilt als eine unnütze Zutat und darf uns nicht weiter bemühen; was immer hingegen bleibt, das muss sich von hier aus verstärken.“
So steht für Rudolf Eucken beim Glück das Subjekt, bei der Wahrheit das Objekt voran, dort eine energische Konzentration, hier eine Weite ohne Grenzen, dort ein Hervorkehren, hier ein Zurückdrängen des Lebenswillens. Rudolf Eucken fügt hinzu: „Das Wahrheitsstreben mag leicht vom Glücksverlangen aus als kalt und matt, dieses aber von jenem aus als eng und selbstisch erscheinen.“ Dieser Gegensatz liegt nicht außerhalb der Philosophie, so dass jede Wendung zu ihr gegen das Glück und für die Wahrheit eintritt.
Der Unterschied im Denken von Augustinus und Baruch de Spinoza
Rudolf Eucken verweist auf das Denken Augustins, das von einem glühenden Glücksverlangen angetrieben und beseelt war. Nur ein überwältigendes „Ich will“ führt ihn durch alle Zweifel hindurch und lässt ihn alle Widerstände überwinden. Rudolf Eucken schreibt: „Was er ergreift, das will er bezwingen und in eignes Leben verwandeln, auch in dem scheinbar Fernsten sieht er nur die Beziehung auf das Befinden des Subjekts und umklammert es danach mit seinen Gefühlen; so scheidet sich ihm alles in ein Entweder – Oder, Tag oder Nacht, in Seeligkeit oder Verdammnis.“
Baruch Spinoza dagegen bekämpft laut Rudolf Eucken alles Hineintragen menschlicher Empfindungen und Affekte in das Universum als eine grobe Entstellung, ja totale Verfälschung. Er möchte das übliche Bild der Welt davon befreien und das Denken und Leben der Menschen ganz und gar mit dem Gehalt der Dinge erfüllen. Rudolf Eucken schreibt: „Die willen- und wunschlose Betrachtung wird hier zum Gipfel des Lebens, sie lehrt, die Dinge unter der Form der Ewigkeit zu schauen, alles Einzelne umfassenden Zusammenhängen einzufügen, die Geschehnisse nicht zu beweinen oder zu belachen, sondern zu verstehen.“
Von Hans Klumbies