Kein Mensch kann heute seine ganz persönliche Kultur noch so leben, als ob es keine andere neben ihm gäbe. In gemischten Gesellschaften steht jede Kultur neben anderen. Das heißt: Es gibt keine selbstverständliche Kultur, keine natürliche Zugehörigkeit mehr. Die Außenperspektive – dass es nämlich immer anders sein könnte, dass man jemand anders sein, etwas anderes glauben, anders leben könnte – ist heute Teil einer jeden Kultur. Und diese Veränderung betrifft jeden Einzelnen. Sie verändert den Bezug zur Gemeinschaft, zur eigenen Identität. Die Philosophin Isolde Charim wendet ihre Thesen in ihrem neuen Buch „Ich und die Anderen“ auf verschiedene gesellschaftliche Themen an, von der Integrationspolitik über die Definition des Heimatbegriffs bis hin zu den Debatten um religiösen Zeichen. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.
In der pluralisierten Gesellschaft erodiert die Nation
In den Staaten der westlichen Moderne leben die Menschen in einer pluralisierten Gesellschaft. Das ist nicht nur ein relative neues, sondern auch ein unumkehrbares Faktum. Isolde Charim erläutert: „Es gibt keinen Weg zurück in eine nicht-pluralisierte, in eine homogene Gesellschaft.“ Fest steht auch: In der pluralisierten Gesellschaft verschwindet die Nation nicht. Aber sie erodiert. Diese Erosion bedeutet. Die Welt der Nation ist nicht mehr „das“ eine Milieu, „die“ selbstverständliche Welt. Sie ist nicht mehr das Versprechen einer vollen Zugehörigkeit und einer intakten Identität.
Die Pluralisierung verändert alle Menschen einer Gesellschaft. Sie verändert nicht nur die, die neu hinzukommen, sie verändert auch die, die schon da sind. Was die Zughörigkeit anbelangt, so muss man sagen: Man kann heute nicht mehr auf dieselbe Art Deutscher oder Österreicher sein wie „früher“. Weil dieses Milieu nicht mehr das einzige Milieu ist, weil diese Kultur nicht mehr das einzige kulturelle Koordinatensystem in diesen Ländern ist. Und das ist eine wirklich einschneidende Veränderung, die alle ergreift.
Die eigene Identität ist in Zeiten der Pluralisierung keine Selbstverständlichkeit
In Gesellschaften mit großer Diversität bilden sich Identitäten nicht nur in Abgrenzung von anderen heraus. Sie bilden sich auch durch die Eingrenzung der eigenen Identität heraus – eine Eingrenzung, die sie zu „nicht-vollen“ Identitäten macht. Pluralisierung ist in erster Linie auch eine Erfahrung: die Erfahrung, dass die eigene Identität nicht selbstverständlich ist. Dazu kommt die Erkenntnis, dass das Eigene heute einer Entscheidung bedarf, denn der eigene Weltzugang könnte auch ein ganz anderer sein.
„Was tun?“ ist eine der meistgestellten Fragen der Gegenwart. Viele Menschen sehnen sich nach einer Anleitung zum „bewussten“ Handeln. Isolde Charim erklärt: „Es ist ein doppelter Ruf – ein Ruf nach Rezepten gegen die multiplen Krisen und ein Ruf nach Alternativen, die dieses Handeln leiten sollen.“ Die Frage „Was tun?“ ist für Isolde Charim ein Fetisch, eine magische Vorstellung, die die Wirklichkeit verneint. Diese Frage gibt sich der irrigen Hoffnung hin, es gäbe eine Antwort, es gäbe eine konkrete Anleitung. Dem ist aber nicht so: Die Frage „Was tun?“ bleibt unbeantwortet.
Ich und die Anderen
Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert
Isolde Charim
Verlag: Zsolnay
Gebundene Ausgabe: 222 Seiten, Auflage: 2018
ISBN: 978-3-552-05888-0, 22,00 Euro
Von Hans Klumbies