Das Denken von Michel Serres kennt keine Grenzen

Der Franzose Michel Serres wird in der Fachwelt als der Philosoph des Fließenden und des Flüchtigen bezeichnet. Wer seine Bücher liest, entdeckt ein Denken, das sich nicht festlegen lässt, weil die Skepsis des Suchenden das einzig Feststehende in seinem Werk ist. Für Michel Serres lebt die heutige Menschheit in revolutionären Zeiten, die er mit der Epoche der Renaissance oder der Zeit des fünften Jahrhunderts vor Christus, in der Platon lebte, vergleicht. Er begründet dies mit einer Veränderung, die so massiv ist, dass sie eigentlich jeden Menschen erstaunen müsste, aber völlig unerwartet mit stoischem Gleichmut hingenommen wird.

Die Jungsteinzeit endete im Jahr 2000

Michel Serres erklärt: „Um das Jahr 1900 waren in Deutschland und in Frankreich 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. 1970 waren es nur noch 1,5 Prozent. Wenn man nun sagt, dass die Jungsteinzeit mit der Landwirtschaft begann, dann kann man auch sagen, dass die Jungsteinzeit im Jahr 2000 endete.“ Für diesen Wandel gibt es laut Michel Serres keine Entsprechung im Denken, den Menschen fehlen die passenden Begriffe.

Um 1800 lebten rund acht Prozent der Menschen in Städten. Heute sind es zwischen 50 und 70 Prozent. Das ist für Michel Serres eine völlig andere Menschheit. Es sind nicht mehr die gleichen Körper, es ist nicht mehr der gleiche Raum und auch nicht mehr dieselbe Sprache. Die Veränderungen haben inzwischen sogar vom Wesen des Lebens selbst Besitz ergriffen. Michel Serres gibt ein Beispiel: „Wir können heute die Geburt genauso regeln, wie wir die Stunde des Todes bestimmen können.“

Die Kluft zwischen der Politik und der Wirklichkeit wird immer größer

Die Fortschritte in der Medizin haben den Menschen in die Lage versetzt, sogar den Schmerz zu besiegen. Die Menschen haben heute ein völlig anderes Verhältnis zu ihrem Körper als in den vergangenen Jahrhunderten. Schmerz war früher eine alltägliche und notwendige Erfahrung. Heute dagegen gibt es Menschen, die noch nie einen körperlichen Schmerz erleiden mussten. Das hat natürlich Folgen für die Menschheit. Wenn der Schmerz verschwindet, stellt sich für Michel Serres die Frage, auf was man dann die Moral gründet.

Auch der Politik gegenüber ist Michel Serres skeptisch eingestellt. Er sagt: „Ich war nie ein „philosophe engagé“ im Sinne von Jean-Paul Sartre. Die Welt hat sich so radikal verändert, dass die politischen Institutionen dagegen wirken wie Dinosaurier. Und ich will nicht mit Dinosauriern spielen.“ Die Kluft zwischen der politischen Welt und der Wirklichkeit hat sich in den Augen von Michel Serres so stark vergrößert, dass ihn die Politik nicht mehr interessiert.

Die Geophysik und die Biochemie sind die Wissenschaften der Zukunft

Die wahren Dinge geschehen laut Michel Serres außerhalb dessen, was die Politik darstellt. Viel wichtiger sind für den französischen Philosophen die Lebenswissenschaften geworden wie die Geophysik etwa oder die Biochemie. Seiner Meinung nach fangen die Menschen gerade erst an, zu begreifen, welche Konsequenzen das für das Denken hat. Eine der entscheidenden Fragen unserer Zeit ist für Michel Serres der Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und der Natur.

Eines seiner Bücher trägt den Titel „Der Naturvertrag“, in dem er vorschlägt, den Naturelementen den Status von juristischen Personen zu geben. Für Michel Serres gibt es nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch Verbrechen gegen die Natur, die ebenfalls vor einem internationalen Gerichtshof auf die Anklagebank gehören. Die Machtlosigkeit, mit der Regierungen wie die der USA auf Umweltkatastrophen reagieren, erfordert in diesem Bereich ein völlig neues Denken.

Von Hans Klumbies