Gabriel Tarde erforscht die Wiederholungen des Alltags

Gilles Deleuze und Félix Guatarri stimmen in ihrem Buch „Tausend Plateaus“ ein Loblied auf den französischen Soziologen Gabriel Tarde an, der von 1843 bis 1904 lebte. Sie feiern ihn als soziologischen Klassiker unserer Zeit. Sie schreiben, dass nur im Anschluss an Gabriel Tarde eine radikale Neuausrichtung der Soziologie als einer „Mikrosoziologie“ möglich war. Denn sie hat sich genau für die Unwahrscheinlichkeiten dessen interessiert, was andere Soziologen als soziale Tatsachen oder kollektive Vorstellung in stabilen Gesellschaftsstrukturen betrachteten. Gilles Deleuze und Félix Guatarri stimmen mit Gabriel Tarde überein, dass es die sozialen Regelmäßigkeiten sind, die erklärt werden müssen. Man darf ihre Entstehung nicht als bekannt voraussetzen.

Die Gesetze der Nachahmung

Dem Soziologen Gabriel Tarde geht es in seiner Sozialforschung um die kleinen Nachahmungen, Gegensätze und Erfindungen, die ein Konstrukt unterhalb der menschlichen Auffassung bilden. Seit sein Essay „Monadologie und Soziologie“ auf Deutsch erschienen ist, halten ihn viele Kollegen für den Großvater der poststrukturalistischen Philosophie. Auch der Soziologe Bruno Latour ist von den Schriften Gabriel Tardes begeistert. Durch ihn könne man begreifen, dass sich die großen Strukturen nur aus der Vielzahl des unendlich Kleinen erfassen lassen.

Die Makroebene war für Gabriel Tarde nur eine leichte Erweiterung der Mikroebene. Vor allem aber beschäftigte er sich mit den kleinen Wiederholungen und Nachahmungen. In seinem Buch „Gesetze der Nachahmung“ versucht er die Welt als das Ergebnis eines universellen Wiederholungszwanges zu erklären. Wiederholung gilt ebenso als Quelle von Ähnlichkeiten wie Veränderungen. Im Physikalischen erkennt Gabriel Tardes die Wiederholung in der Schwingung, im Organischen in der Vererbung und im Sozialen in der Nachahmung.

Die Regelmäßigkeit stellt sich auch ohne das Wissen der Menschen ein

Gabriel Tarde schreibt: „Die Gesellschaft besteht aus Nachahmung, und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus.“ Die Wiederholung zeigt sich in dieser Betrachtungsweise nicht nur als eine Form sozialer Ereignisse, aus der sich der Aufbau einer Ordnung und einer Struktur ableiten lässt, sondern auch in ihrer Zerbrechlichkeit. Gabriel Tarde stellt einen scheinbares Widerspruch auf: „Die Wiederholung gibt es also um der Variation willen.“ Diese ganzen Vorgänge laufen mit einem traumwandlerischen Automatismus ab, der darauf hinweist, dass die Praktiken der Nachahmung keine bewusst handelnden Menschen voraussetzen.

Für Gabriel Tarde kann sich die Regelmäßigkeit auch ohne das Wissen der beteiligten Menschen einstellen. Der französische Soziologe vermutete den Motor der Widerholung in der Überzeugung und im Begehren. Aus den Schriften Gabriel Tardes geht hervor, dass sich die traumwandlerischen Wiederholungen im menschlichen Verhalten nicht als konkrete Verwirklichung einer abstrakten, über der Zeit stehenden und ohne Widerspruch daherkommenden Struktur deuten lassen, die den Menschen ihre Regeln von oben herab diktiert.

Auf der anderen Seite können die Widerholungen aber nicht ohne Umstände aus dem Wissen, dem Bewusstsein oder den Interessen des einzelnen Menschen erklärt werden. Inzwischen haben sich die Menschen daran gewöhnt, dass über große räumliche und zeitliche Entfernungen Widerholungen die Regel sind, hinter denen nicht ein rätselhafter Weltgeist oder die bewusste Entscheidung eines Einzelnen steckt.

Von Hans Klumbies