Carlo Rovelli vertritt die These, dass ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Methodologie ihren Ursprung in der Schule von Milet, vor allem im Denken Anaximanders hat. Gestützt wird seine Vermutung durch den milesischen Naturalismus, dem erstmaligen Gebrauch von theoretischen Begriffen oder der Vorstellung von Naturgesetzen. Dass die Naturgesetze die Notwendigkeit der Abfolge von Ereignissen bestimmen, geht auf die Schule von Milet zurück. Vor allem vermittelte Milet der Welt diese einzigartige Kombination aus Respekt und Kritik im selben intellektuellen Gebiet. Dort entstand auch die allgemeine Idee, dass die Welt nicht so sein muss, wie sie den Menschen erscheint. Um wie Welt besser zu verstehen, kann es notwendig sein, das existierende Weltbild radikal zu verändern. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille.
In Griechenland entstand das erste phonetische Alphabet
Es mag erstaunlich wirken, dass all diese wichtigen und intellektuellen Schritte recht plötzlich und zudem gleichzeitig erfolgten. Warum genau zu dieser Zeit? Warum im 6. Jahrhundert? Warum in Griechenland? Warum in Milet? Carlo Rovelli fällt es nicht schwer, einige mögliche Antworten auf diese Fragen zu geben. Im Griechenland des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeit entstand eine radikale Neuartigkeit der politischen Struktur. Zudem verfügte die junge griechische Welt Mitte des 7. Jahrhunderts zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte über ein echtes phonetisches Alphabet.
In antiken Gesellschaften fielen Lesen und Schreiben ausschließlich in die Kompetenz von Schreibern. Das Wissen, das damit verbunden war, wurde eifersüchtig gehütet. Das geschah oft auch aus militärischen Gründen. Carlo Rovelli weiß: „In der Antike war insbesondere die Stadt Marseille für die Geheimniskrämerei berühmt, mit der sie ihre Militärtechnologie umgab.“ Derselbe Geist der Geheimhaltung erfüllt heutzutage beispielsweise das amerikanische State Department.
In Griechenland entstand ein neue Form der Zivilisation
Aber in Griechenland tauchte auch eine Form des Wissens auf, die nicht nur geheim war, sondern die man bewusst allgemein verbreitete. Im 7. und 6. Jahrhundert vor unserer Zeit erhielten in Griechenland zum ersten Mal in der Geschichte viele Menschen die Möglichkeit, Lesen und Schreiben zu lernen. Wissen war nicht länger das exklusive Vorrecht einer kleinen, geschlossen Bruderschaft von Schreibern. Sondern es war ein gemeinsames Erbe, das eine große herrschende Schicht teilte.
Nicht lange danach folgten die unsterblichen Worte von Sappho, Sophokles und Platon. Am Ende des hellenistischen Mittelalters stand daher eine völlig neue Form der Zivilisation, die sich der Welt präsentierte und die sich deutlich von ihrer mykenischen Vergangenheit unterschied. Die großen Paläste waren verschwunden und mit ihnen die königlichen Halbgötter. In dem politisch wie kulturell neu geborenem Griechenland gab es keine zentrale Macht mehr. Es gab auch keine organisierte religiösen Autorität, keine mächtige Priesterkaste und kein heiliges Buch. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli
Von Hans Klumbies